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Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler

der anderen Leiden, die wie ein böser Spuk das menschliche Leben umschweben. 39 Diese haben also gleichsam zugebundene und verschlossene Güter erworben; andere aber gibt es, die alle (Güter) unbehindert, losgebunden und frei verwenden konnten, da sie zu ihnen überdies in reichlichstem Ausmaß ein Stoffgebiet zum Erweisen (ihrer Fähigkeiten) erhalten haben: 40 der Verständige die Verwaltung privater und öffentlicher Angelegenheiten, damit er an ihnen sein Verständnis und seine Fähigkeit, zu raten, erweise; der Besonnene den blinden Reichtum,[1] der die gefährliche Eignung besitzt, zur Schlemmerei anzuregen und zu verlocken, damit er ihn sehend mache; der Gerechte ein Amt, damit er durch dieses in den Stand gesetzt werde, einem jeden der Bürger[2] das ihm Gebührende ungehindert zuzuteilen; der Kämpfer um die Frömmigkeit das Priesteramt und die Sorge um die heiligen [399 M.] Stätten und um den Gottesdienst an diesen. 41 Ohne dies sind (jene Güter) zwar Tugenden, aber unbewegte Tugenden im Ruhezustand, geradeso wie das in unsichtbaren Erdwinkeln aufgespeicherte Silber und Gold zu nichts verwendbar ist.[3] 42 Dann aber kann man wieder umgekehrt sehen, daß Unzählige unmännlich, zügellos, unverständig, ungerecht und unfromm in ihren Gedanken sind, jedoch die Häßlichkeit jedes einzelnen Lasters zu erweisen nicht in die Lage kamen, bloß weil es ihnen an günstigen Gelegenheiten zur Sünde fehlte; wann aber einmal diese Möglichkeit wie ein starker, großer Wirbelwind herniederfährt, dann sieht man sie Erde und Meer bis zu den Enden mit unsäglichem Unheil erfüllen und nichts, nicht Kleines, nicht Großes, unbeschädigt lassen, sondern in einem einzigen Wirbel alles umkehren und vernichten. 43 Denn so wie die Kraft des Feuers durch das Fehlen des Brennstoffs in Ruhe ist, durch dessen Vorhandensein aber wieder aufs neue entbrennt, so werden auch alle


  1. Der Gott des Reichtums, Sohn der Demeter und des Jasios, wird nach der späteren Sage blind vorgestellt; für Philo fällt die Blindheit mit der ἄγνοια und ἀφροσύνη zusammen. Vgl. auch über Abraham § 25 und Anm.
  2. Die Überlieferung ἑκάστῳ τῶν ὄντων gibt keinen Sinn; Mangeys Konjektur συνόντων befriedigt nicht; Wendlands ὑπηκόων ist auch paläographisch unwahrscheinlich. Die alte Korruptel dürfte aus der Zeit stammen, in der die Hss. noch in Majuskel oder Unziale geschrieben waren; ΟΛΙΤΩΝ wäre dann zu ΠΟΛΙΤΩΝ zu verbessern. Jedenfalls schwebt die stoische Definition der Gerechtigkeit auf Grund der Ableitung des νόμος von νέμειν, διανέμειν (StVF III 262 u. ö.) vor.
  3. So rationalistisch auch die Stoa die Tugend aufgefaßt hat, sie besteht nicht bloß in theoretischem Wissen, sondern muß sich praktisch auswirken. Namentlich die jüngere Stoa hat das betont.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSobrGermanAdler.djvu/16&oldid=- (Version vom 17.7.2016)