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Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler

das Versmaß, den Rhythmus und alle Arten der Melodie in Einklang bringt – er kann das aber auch ohne die von Menschenhand verfertigten Instrumente durch Benützung des natürlichen Organes, durch die Stimme, die auf alle Töne abgestimmt ist, – und wann ein jeder auch der übrigen Künstler sich in seiner Kunst versucht, dann kommen den in den einzelnen Wissensgebieten Kundigen andere, aber den früheren notwendigerweise verwandte Namen zu, dem Zimmermann das Zimmern, dem Maler nunmehr das Malen, das Anbauen aber dem Bauern, und das Flötenspielen oder Zitherspielen oder das Singen oder eine ähnliche Tätigkeit dem Musiker. 37 Wem folgt nun Tadel und Lob ? Nicht etwa den Wirkenden und Tätigen? Denn handeln sie richtig, heimsen sie Lob ein, umgekehrt aber Tadel, wenn sie fehlen[1]. Diejenigen jedoch, die ohne irgend etwas zu tun, bloß sachkundig sind, die haben ein gefahrloses[2] Ehrengeschenk bekommen, die Ruhe, und stehen still. [9] 38 Dieselbe Erläuterung paßt nun aber auch auf Menschen, die sich nach der Unvernunft und überhaupt nach der Tugend und dem Laster richten; Menschen, die in ihren Seelen verständig, besonnen, tapfer und gerecht sind,[3] gibt es in Unzahl, infolge eines glücklichen Geschenkes der Natur, infolge der gesetzmäßigen Unterweisungen, infolge unbesiegbarer und unverdrossener Kampfesmühe,[4] aber von der Schönheit der Gedanken[5] in ihren Seelen konnten sie doch keine Probe geben, wegen ihrer Armut oder ihrer Unberühmtheit oder wegen körperlicher Krankheit oder wegen all


  1. Dieser Gedanke stammt aus der praktischen Ethik der Stoa (Arnim, StVF III 244).
  2. Bei Kenntnissen ohne Betätigung besteht nicht die Gefahr des διαμαρτάνειν, des größten Übels und Unglücks für die Stoiker.
  3. Das sind Menschen, die im Besitze der vier Einzeltugenden sind, wie sie seit Plato in der griechischen Philosophie kanonisch wurden.
  4. Nach einem Ausspruch des Aristoteles (Diog. Laert. V 18) zu schließen, liegt hier die peripatetische Ansicht über die Wege zur Tugend vor. Philo hat sie für die allegorische Erklärung der drei Stammväter des Volkes Israel so verwendet, daß er Isaak als Symbol der φυσική ἀρετή, Abraham der διδασκαλική und Jakob der ἀσκητική nimmt; z. B. Ü. Abrah. § 52. Über die Frage, ob jeder Weg allein oder nur zusammen mit den beiden anderen zur Tugend führe, vgl. E. Bréhier, Les idées philos. et relig. de Philon d’Alexandrie², S. 272ff.
  5. Der poetische Ausdruck ἀγαλμάτων ist in der Übersetzung durch Gedanken unzulänglich wiedergegeben; Philo meint damit die geistigen Abbilder der dem menschlichen Erkennen unerreichbaren wirklichen Wesenheiten, die νοητὰ ἀγάλματα (vgl. § 3), ungefähr das also, was wir Begriff und Gedanke nennen.
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Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSobrGermanAdler.djvu/15&oldid=- (Version vom 17.7.2016)