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Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler

folgendes vorausschicken. [8] 34 Zustand[1] und Bewegung unterscheiden sich voneinander; denn ersterer ist Ruhe, die Bewegung jedoch ein Bewegtsein im Raume;[2] von dieser gibt es zwei Arten, die eine, die Ortsveränderung, die andere eine Drehbewegung an demselben Orte.[3] Mit dem Zustande nun [398 M.] ist nahe verwandt die Beschaffenheit,[4] mit der Bewegung die Betätigung. 35 Das Gesagte dürfte durch ein passendes Beispiel verständlicher werden; einen Zimmermann, einen Maler, einen Bauer, einen Musiker und die übrigen Künstler benennen wir, auch wenn sie Ruhe halten und keine berufliche Tätigkeit ausüben, trotzdem gewohnheitsgemäß mit den eben aufgezählten Namen, weil sie im Besitze der Erfahrung und des Wissens sind, die ein jeder in seinem Berufe erworben hat. 36 Wann aber der Zimmermann Holzmaterial hernimmt und bearbeitet, wann der Maler die zusammengehörigen Farben mischt, um auf der Holztafel die Umrisse der Figuren, die er im Geiste sieht, aufzumalen, wann ferner der Bauer Furchen in der Erde aufreißt und den Samen in sie versenkt, Weinreben und Baumschößlinge anpflanzt und zugleich die notwendigste Nahrung begießt und den Pflanzungen Wasser zuführt und an alle anderen landwirtschaftlichen Arbeiten Hand anlegt, wann ferner der Musiker auf der Flöte, der Zither und den anderen Musikinstrumenten


  1. Das griechische Wort σχέσις kann sowohl das Gegenteil der Bewegung bedeuten (also Stillestehen, Stillstand), als auch Zustand, Zuständlichkeit. Philo denkt hier, wie der Ausdruck: διαφέρουαιν ἀλλήλων zeigt, nicht nur an die Ruhe.
  2. Die φορά ist bei Aristoteles eine der vier Arten der μεταβολή oder κίνησις, und zwar die räumliche, κατά τόπον oder κατά τὸ ποῦ; hier liegt also nicht eine Identifizierung der beiden Begriffe vor, sondern eine Beschränkung auf eine Unterart. Ebensowenig hat auch die Stoa mit κίνησις ausschließlich die räumliche Bewegung, μεταλλαγὴ κατά τόπον, bezeichnet, sondern darunter ebenso eine μεταλλαγὴ κατὰ σχήμα verstanden.
  3. Eine ähnliche Einteilung der räumlichen Bewegung finden wir erst bei Nachfolgern des Chrysipp; Apollodor ist nach dem Stande unserer Überlieferung der erste, der die Bewegung an demselben Orte besonders behandelt. StVF III 260, 6–12. Möglich wäre es aber auch, daß Philo hier an die tonische Bewegung der Stoiker denkt.
  4. Die stoische Philosophie hat sowohl die σχέσις wie die ἕξις als Wirkung des πνεῦμα erklärt; daher, und überdies aus Gründen der Etymologie (ἴσχεσθαι τοιοῦτο und ἔχειν πῶς) sind die beiden Begriffe „verwandt“. Während aber σχέσις die Zuständlichkeit eines Dinges bedeutet, ist ἕξις seine Qualität. Über die Zusammenhänge beider Begriffe im System der Stoa vgl. H. v. Arnim, Die europ. Philos. d. Altert. (in Hinnebergs Kultur d. Gegenw. V/1) S. 229.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSobrGermanAdler.djvu/14&oldid=- (Version vom 17.7.2016)