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Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Einsicht ist.[1] Denn den Umgang mit jener liebt der große Haufe der Menschen ungemein, weil sie ihnen ihren verführerischesten Köder und Zauber von sich verschenkt, vom Anbeginn der Geburt bis ins alleräußerste Alter, wogegen ihnen das ernste und erhabene Wesen der letzteren außergewöhnlich verhaßt ist, gerade so wie den unverständigen Kindern die sehr nützlichen, aber nicht sehr erfreulichen Unterweisungen der Eltern und Erzieher. 24 Beide gebären sie; die eine die Geistesart, die die Lust liebt, die andere die Geistesart, die die Tugend liebt. Aber der Liebhaber der Lust ist unvollkommen und tatsächlich immer ein Kind, auch wenn er in einer Fülle von Jahren die längste Ewigkeit erreichte; der Liebhaber der Tugend dagegen wird, wie man so sagt, schon in den Windeln in den Altersrat der Einsicht eingereiht, ohne daß er alt sein müßte. 25 Und darum sagt (die heilige Schrift) gar deutlich von dem Sohne der von der Menge gehaßten Tugend: „er ist der Erstling[2] der Kinder“, da er ja doch sowohl in der Reihenfolge als auch seiner Führerstellung nach der erste ist und[3] „diesem gebührt das Recht der Erstgeburt“, nach dem Gesetz der Natur, aber nicht nach der Gesetzlosigkeit, die bei den Menschen herrscht.[4] [6] 26 Diesem folgt nun (die heilige Schrift) und schießt gleichsam wie nach einem vorgesteckten Ziele treffsicher die Pfeile ab, wenn sie folgerichtig den Jakob seiner Geburt nach zwar jünger als Esau einführt – denn die Unvernünftigkeit wächst vom ersten Lebensalter an mit uns auf, während das Streben nach dem Schönen erst spät entsteht –,[5] seiner Bedeutung nach aber als den


  1. Die gehaßte Frau wird von Philo auch mit Lea, die geliebte mit Rachel identifiziert. Eine ausführliche allegorische Auslegung als ἀρετή und ἡδονή findet sich im Anschluß an dieselben Verse des 5. Buches Mos. in d. Schrift Ü. d. Opfer Ab. u. K. § 20ff.
  2. Das Wort ἀρχή bedeutet sowohl die erste Stelle einer örtlichen oder zeitlichen Reihe wie die erste Stelle im gegliederten Staate; Philo kam es aber darauf an, das zeitliche Moment auszuschalten, und deshalb erklärt er ἀρχή als τάξις, das hier nicht lokal, sondern axiologisch aufzufassen ist, wie er es Ü. d. Nachk. Kains § 62 ausspricht.
  3. Das Zitat wird wahrscheinlich erst mit dem Worte τούτῳ beginnen, daher dürften die Anführungszeichen hinter καὶ zu setzen sein, welches die beiden Zitate verbindet.
  4. Mit dem Ausdrucke: „Gesetzlosigkeit“ belegt hier Philo die menschlichen Konventionen, die das wahre Gesetz der Natur durch mangelhafte Nachahmung verfälschen. Vgl. Ü. d. Trunkenh. § 34 und Anm. 2, § 47.
  5. Nach stoischer Lehre wird der λόγος nicht gleich mit dem Kinde mitgeboren, sondern entwickelt sich erst vom 7. Lebensjahre angefangen und wird erst durch Sinneswahrnehmungen und Vorstellungstätigkeit um das 14. Lebensjahr herum vollentwickelt.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSobrGermanAdler.djvu/11&oldid=- (Version vom 17.7.2016)