Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/71

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

er zu reden scheint, da sich seiner Sprachwerkzeuge, seines Mundes und seiner Zunge, ein anderer bedient, um zu offenbaren, was er wünscht; indem er jene mit unsichtbarer feinster Kunst anschlägt, bringt er eine wohlklingende, harmonische, symphonievolle Musik zustande.

[54] 267 Aber es ziemt sich nun zu hören, was gesprochen und verheißen wurde. Zuerst, daß Gott dem Freunde der Tugend nicht gestattet in dem Körper wie im Heimatlande zu wohnen, sondern daß er von ihm verlangt, darin wie ein Fremdling im fremden Lande zu weilen.[1] „Wissen sollst du“, sagt er, „daß ein Fremdling dein Same sein wird in einem nicht ihm gehörigen Lande“. Zu jedem Schlechten dagegen paßt die Örtlichkeit des Körpers, in dem er zu wohnen trachtet, nicht zu verweilen wie ein Fremdling. 268 Das ist die eine Lehre, die andere ist die, daß die irdische Behausung es ist, die der Seele Knechtschaft, Mühsal und – wie er selbst sagte – schreckliche Erniedrigung bringt; denn unedel und ohne Vernunft sind fürwahr die Affekte[2] des Körpers, Sprößlinge des Fleisches, in dem sie wurzeln. 269 „Vierhundert Jahre“ dauert die Knechtschaft entsprechend den vier Haupt-Affekten.[3] Wenn nämlich die Lust die Oberhand hat, so erhebt sich das Herz und bläht sich auf, hochfahrend mit windiger Leichtigkeit; [p. 512 M.] sobald die Begierde obsiegt, kommt die Sehnsucht nach dem Fehlenden und hängt die Seele, wie an einen Strick, an unerfüllbare Hoffnungen, denn sie dürstet fortwährend, kann aber nicht trinken und erduldet Tantalusqual. 270 Bei der Herrschaft des Schmerzes zieht sie sich und schrumpft nach Art hinwelkender, vertrocknender Bäume zusammen, denn ihre Blüte und ihr Saft sind geschwächt. Wo aber die Furcht regiert, will niemand fürder bleiben; in der Erwartung, nur dadurch sich zu retten, wendet man sich zu eiliger Flucht. Die Begierde besitzt nämlich eine Anziehungskraft, sie nötigt, dem Begehrten, wenn es flieht, nachzujagen; die Furcht aber tut das Gegenteil, sie scheidet und entfernt weit von dem Wahrgenommenen. [55] 271 Die Herrschaft der genannten Affekte verursacht den von ihnen Beherrschten eine harte Knechtschaft, bis Gott, der entscheidende und strafende

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/71&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
  1. Vgl. Über d. Landwirtschaft § 65 und Anm. Andere Parallelen aus Philo bei M. Apelt, Commentationes philol. Jenenses VIII 101.
  2. Vgl. oben § 109 und Anm.
  3. Lust und Schmerz, Begierde und Furcht gelten bei Plato und der Stoa als die 4 Hauptaffekte. Vgl. Alleg. Erkl. III, 113; P. Barth S. 89.