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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

aber, die befreundet sein könnten, sind eben solcher Art, wie die Lehrstreitigkeiten der Sophisten. Denn insofern sie auf ein Ziel, die Betrachtung der Naturdinge, hinstreben, könnte man von ihnen sagen, daß sie Freunde sind; insofern sie aber bei einzelnen Untersuchungen verschiedener Meinung sind, muß man annehmen, daß sie wie bei einem Bürgerkrieg miteinander in Zwietracht leben, wie z. B. diejenigen, die das Unerschaffensein des Weltalls behaupten, mit denen, die dessen Erschaffensein lehren; ferner diejenigen, die da sagen, daß es untergehen wird, mit denen, die da meinen, daß es wohl seiner Natur gemäß vergänglich ist, aber niemals untergehen wird, weil es durch ein zu starkes Band, den Willen des Schöpfers, zusammengehalten wird;[1] denn diejenigen, die behaupten, daß nichts ist, sondern daß alles wird, mit denen, die das Gegenteil annehmen;[2] ferner diejenigen, die den Menschen als das Maß aller Dinge[3] erklären, mit denen, die die Prüfungsmittel der sinnlichen Wahrnehmung und die des Denkens[4] verwerfen, und überhaupt diejenigen, die alles als unbegreiflich erklären, mit denen, die behaupten, daß man sehr vieles erkennen könne.[5] 247 Und so haben Sonne und Mond und der Himmel im ganzen, Erde, Luft und Wasser und fast alles aus ihnen Entstandene den Skeptikern Anlaß zu Streit und Zank gegeben bei der Untersuchung ihrer Wesenheiten und Eigenschaften, ihrer Veränderungen und Wandlungen, ihres Werdens und Vergehens; trotz gründlicher Forschung über die Größe und Bewegung der Himmelskörper sind sie verschiedener Meinung, ohne sich einigen zu können, bis der Mann, der zumal Geburtshelfer[6] und Schiedsrichter ist, „sich zu ihnen setzt“ und die Kinder

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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/66&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
  1. Ausführlich handelt Ph. über diese Fragen, in De aeternitate mundi.
  2. Heraklit mit den Eleaten.
  3. S. Über die Nachk. Kains § 35 Anm. 3 das.
  4. Als Prüfungsmittel der sinnlichen Wahrnehmung gelten der Stoa 1. κατάληψις, das Erfassen des Objekts, 2. ἐνάργεια, die Klarheit der Vorstellung und 3. συγκατάθεσις, die Zustimmung. Die Prüfungsmittel des Denkens sind der gesunde Menschenverstand, das richtige Denken (ὀρθὸς λόγος) und die Übereinstimmung bei allen oder den meisten Menschen (consensus gentium).
  5. Die skeptische Schule der Pyrrhoneer mit der sog. mittleren Akademie, die weniger radikal war.
  6. Hier denkt Philo an Sokrates, der sich selbst „Geburtshelfer“ und seine Methode „Geburtshilfe“ nannte, womit er sagen wollte, daß er es versteht, die Gedanken – die Kinder des Geistes – aus der Seele seiner Schüler und Hörer ans Tageslicht zu ziehen. Plato Theaet. 140.