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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

Wissenschaften. Sind die ersten Aussaaten der Pflanzen eine Ackerbautätigkeit oder die unsichtbaren Werke der unsichtbaren Natur?[1] Und wie ist die Entstehung der Menschen und der übrigen Lebewesen? Haben sie nicht die Eltern gleichsam als Miturheber, dagegen die Natur als oberste, allererste und wirkliche Ursache?[2] 116 Liegt nicht auch den Künsten und Wissenschaften als Quelle, Wurzel, Fundament oder eine andere Bezeichnung für das frühere Prinzip – die Natur zugrunde, auf der sich die Lehrsätze einer jeden aufbauen? Alles ist unvollkommen, wenn ihm nicht vorerst die Natur zugrunde liegt.[3] Wie mich dünkt, hat demnach jemand sehr treffend gesagt: „Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen“,[4] wobei er mit „Anfang“ auf die Natur hindeutet, die gleichsam wie eine Wurzel in den Boden gelegt ist, um jegliches Wachstum mitzufördern, und der er die Hälfte des Ganzen zuschreibt. [24] 117 Mit Recht hat also das Schriftwort die Anfänge Gott dem Herrn geweiht. Auch anderswo (2 Mos. 13, 1. 2) sagt die Schrift: „Es sprach der Herr zu Mose folgendermaßen: Heilige mir jedes Erstgeborene, jedes Erste der Gattung[5] , das jeden Mutterschoß eröffnet unter den Kindern Israels vom Menschen bis zum Vieh; mir gehört es.“ 118 Somit wird auch in diesen Worten übereinstimmend gelehrt, daß das Erste hinsichtlich der Zeit und Bedeutung und besonders das Erstgewordene Gottes Eigentum ist. Da jede Gattung[6] unvergänglich ist, so wird sie füglich dem Unvergänglichen zugeteilt und

  1. Hier wie öfters bei Philo gleichbedeutend mit „Gott“. In dem folgenden Paragraphen wird sogar „die Natur“ (ohne das Attribut der Unsichtbarkeit) in Anlehnung an den stoischen Pantheismus im Sinne von „Gott“ gebraucht.
  2. Zu ganz ähnlicher Beurteilung der physiologischen Ursachen gelangt Jehuda Halevi (Kusari I § 77) nach anderen philosophischen Quellen, eben aus dem gleichen religiösen Motiv.
  3. Philo umschreibt in überschwenglicher und daher unklarer Weise den Gedanken, der aus Aristoteles (= Jambl. Protr. IX ) in die Stoa (Sen. Ep. 90, 23 nach Posidonius) eindrang: daß die menschliche „τέχνη“ (griechisch = Wissenschaft und Technik) nur auf Nachahmung der Natur beruht. Vgl. Jaeger. Aristoteles (1923) S. 75ff.; Heinemann, Pos. met. Schr. II 203, 3. I. H.
  4. Über dieses Zitat vgl. Über die Nachst. § 64 u. Anm.
  5. S. zu § 118.
  6. Philo leitet πρωτογενής von γένος Gattung ab und verwendet den aristotelischen Gedanken, daß die Gattung im Gegensatz zum Individuum unvergänglich ist.