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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

das manche aus Mangel an sittlicher Bildung zu verspotten pflegen, indem sie sagen: Wird man denn einwärts hinausgeführt oder geht man auswärts hinein? Ja, behaupte ich, ihr Spötter Und Voreiligen: denn die Sinnesarten der Seele versteht ihr nicht aufzuspüren, nur die der Körper, die wechselnden Bewegungen in ihnen, untersucht ihr. Darum scheint es euch auch widersinnig, wenn jemand einwärts hinaus- und auswärts hineingeht; doch uns Schülern Moses' ist nicht dergleichen vernunftwidrig. 82 Werdet ihr etwa nicht zugeben, daß der nicht vollkommene Hohepriester, wenn er im Allerheiligsten den altväterlichen heiligen Dienst verrichtet, sowohl drinnen als draußen ist, drinnen mit seinem sichtbaren Körper, draußen mit seiner herumschweifenden und irrenden Seele, und daß dagegen irgendein Gottliebender und Gottgeliebter, wenn er auch nicht zu dem gottgeweihten Priestergeschlecht gehört und sich außerhalb der Waschbecken[1] befindet, dennoch im Innersten verweilt, da er das ganze mit dem Körper verbundene Leben als einen Aufenthalt in der Fremde betrachtet und dann im Vaterlande zu leben glaubt, wenn er seiner Seele allein zu leben imstande ist? 83 Außerhalb des Türpfostens ist doch jeder Tor, auch wenn er den ganzen Tag zu Hause zubrächte und keinen Augenblick ausginge, drinnen aber jeder Weise, auch wenn er nicht nur durch Länder, sondern sogar durch weite Erdzonen getrennt wäre. Nach Moses aber steht der Freund so nahe, daß er sich nicht von der Seele unterscheidet; sagt er doch: „Der Freund, der deiner Seele gleich ist“ (5 Mos. 13, 6).[2] 84 Auch der Priester – „nicht ein Mensch soll an ihm sein,[3] wenn er in das Allerheiligste hineingeht, bis er wieder hinausgeht“ (3 Mos. 16, 17), nicht körperlicher Art, sondern mit den Regungen der Seele. Denn der Geist ist, wenn er Gott in Reinheit dient, nicht menschlich, sondern

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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/29&oldid=- (Version vom 2.4.2020)
  1. D. i. außerhalb des Tempels. Diese Redewendung beruht darauf, daß Weihekessel mit Sprengwasser an den Eingängen der griech. Tempel standen. Vgl. Über die Unveränderlichkeit G. § 3: außerhalb des Tempels der Seele. S. auch Stephanus Thes. s. v. – Auch dem Waschbecken (כיור‎) weist Ph. seine Stellung an „außerhalb der Vorhalle an den Eingängen“ im Widerspruch mit 2 Mos. 30, 18f. Leben Mosis II § 136.
  2. Verwandte Anschauungen über die Freundschaft sind bereits vor Philo aus pythagoreischem Denken in die Stoa eingedrungen: Heinemann. Poseid. met. Schr. II 165ff., 236. I. H.
  3. So deutet Philo den Bibelvers, obwohl der einfache Sinn, daß kein anderer Mensch während der Sühnung im Heiligtum sein soll, ihm nicht entgangen sein kann.