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Philon: Über die Riesen (De Gigantibus) übersetzt von Hans Leisegang

Über die Riesen

[262 M.] [1] 1 „Und als nun die Menschen anfingen, zahlreich zu werden auf der Erde, und ihnen Töchter geboren wurden“ (1 Mos. 6, 1). Man muß, meine ich, die Frage aufwerfen, warum nach der Geburt Noahs und seiner Söhne unser Geschlecht zur Menschenüberfülle anwächst. Es dürfte jedoch nicht schwierig sein, die Ursache anzugeben. Immer nämlich, wenn das Seltene aufgetreten ist, wird sein Gegenteil sehr zahlreich gefunden. 2 So zeigt die Wohlgeratenheit eines Einzelnen die Mißratenheit vieler,[1] und das Kunstvolle, Verständige, Gute und Schöne bringt, obgleich es nur in geringer Menge auftritt, doch die ganze unendlich große, verborgene Masse des Kunstlosen, Unverständigen, Ungerechten und überhaupt Schlechten ans Licht. 3 Siehst du nicht, daß auch in dem All die Sonne, obgleich sie nur eine ist, die tausendfache und tiefe über Erde und Meer ausgegossene Finsternis erleuchtet und zerstreut? Ebenso erweist auch die Geburt des gerechten Noah und seiner Söhne die (Existenz der) vielen Ungerechten; denn durch den Gegensatz wird das Gegensätzliche am besten erkannt. 4 Kein Ungerechter aber zeugt in der Seele überhaupt eine männliche Geburt, sondern es bringen Weibliches hervor die von Natur Unmännlichen, Entkräfteten und in ihren Gedanken Weibischen und pflanzen keinen Baum der Tugend,[2] dessen Früchte notwendig schön und edel werden müssen, sondern lauter Bäume der Schlechtigkeit und Leidenschaften, deren Sprößlinge weiblicher Natur sind. 5 Deshalb heißt es von diesen Männern, daß sie Töchter zeugten, keiner von ihnen aber einen Sohn. Denn da der gerechte Noah Männliches zeugt, indem er nach der vollkommenen und rechten und durchaus männlichen Vernunft strebt, erscheint die Ungerechtigkeit der großen Menge überhaupt [263 M.] als weibliche Geburt; denn es ist unmöglich, daß durch das Entgegengesetzte dasselbe und nicht wieder das Entgegengesetzte entstehe.

[2] 6 „Da sahen die Engel Gottes die Töchter der Menschen, daß sie schön seien, und nahmen sich zu Weibern von allen, die sie sich auswählten“ (1 Mos. 6, 2). (Die Wesen), die andere Philosophen


  1. Vgl. Über die Unveränderlichkeit Gottes § 122ff.
  2. Allegorische Anspielung auf den Weinberg, den Noah pflanzt (1 Mos. 9, 20), worüber Philo in seinen Büchern Über die Landwirtschaft und Über die Trunkenheit speziell handelt.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Riesen (De Gigantibus) übersetzt von Hans Leisegang. H. & M. Marcus, Breslau 1923, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloGigGermanLeisegang.djvu/6&oldid=- (Version vom 14.9.2022)