Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler | |
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allzusehr im Voraus Glauben zu schenken, jene Tatsachen, die fast über die ganze bewohnte Welt verbreitet sind und bei Griechen in gleicher Weise wie bei Barbaren ein Irren infolge des Urteilens[1] herbeiführen? Was sind das für Tatsachen? Doch wohl die unterschiedliche Erziehung von Jugend auf, die väterlichen Bräuche und die alten Gesetze; nichts davon ist, wie zugegeben wird, bei allen gleich, sondern nach Ländern und Völkern und Städten, ja vielmehr in jedem einzelnen Dorfe und Hause, also bei Mann und Frau und kleinem Kinde in Gänze verschieden. 194 Was bei uns für häßlich gilt, ist daher für andere schön und das Anständige unanständig, das Gerechte ungerecht, und für unfromm halten sie das Fromme, für gesetzlich hinwiederum das Gesetzwidrige, ferner für tadelnswert das Lobenswerte und für straffällig das Ehrenwerte, und auch sonst alles andere für sein Gegenteil.[2] 195 Doch wozu soll jemand darüber viel Worte verlieren, wenn ihn [387 M.] andere triftigere Beweisgründe fortziehen? Freilich, wollte jemand, den seine Betrachtung nicht zu einem neuen Gegenstande führt, bei diesem vorliegenden Kapitel mit behaglicher Muße verweilen und Erziehung, Brauch und Gesetz der Länder, Volksstämme, Städte und Gegenden, Untertanen und Führer, Berühmter und Unberühmter, Freier und Sklaven, Laien und Sachverständiger einzeln durchgehen, nicht einen und zwei Tage, auch nicht einen Monat oder ein Jahr, sein ganzes Leben würde er damit verbringen, auch wenn ihm eine lange Lebenszeit zur Verfügung stünde, und trotzdem würde er dennoch vieles unerforscht, undurchdacht und unbesprochen lassen müssen, ohne dessen inne zu werden. 196 Wenn also die einzelnen Dinge bei den einzelnen Menschen nicht bloß in einer Kleinigkeit auseinandergehen, sondern die Unstimmigkeit so völlig ist, daß sie im Widerstreit einander gegenüberstehen, dann müssen doch auch die Vorstellungen, die an sie (von den Dingen) herangebracht werden, verschieden sein und ihre Urteile miteinander im Kampfe liegen. [48] 197 Wer wäre unter solchen Umständen so sinnlos und würde so närrisch daherschwatzen, um mit Bestimmtheit zu behaupten, irgend etwas sei gerecht oder vernünftig oder edel oder nützlich? Denn was dieser auch bestimmen
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/067&oldid=- (Version vom 21.5.2018)