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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Lockerheit und Verdünnung legt (die Arznei) die Probe ihrer Nützlichkeit und Schädlichkeit klar ab. 186 Aber auch folgendes[1] ist männiglich bekannt, daß überhaupt fast kein Ding aus sich heraus und an und für sich Gegenstand des Denkens ist, sondern nur durch Gegenüberstellung mit seinem Gegensatze abgeschätzt wird, wie zum Beispiel das Kleine im Vergleich zum Großen, das Trockene im Vergleich zum Feuchten, im Vergleich zum Kalten das Warme, im Vergleich zum Schweren das Leichte, das Schwarze im Vergleich zum Weißen, das Schwache im Vergleich zum Kräftigen und das Wenige im Vergleich zum Vielen. 187 Ähnlich steht es aber auch mit allem, was sich auf Tugend oder Schlechtigkeit bezieht: das Nützliche wird durch das Schädliche erkannt, das Schöne durch Gegenüberstellung mit dem Häßlichen das Gerechte und allgemein das Gute durch Vergleich mit dem Ungerechten und Schlechten, und wenn man alles übrige, was es in der Welt gibt, betrachtet, so kann man finden, daß es nach dem gleichen Schlage seine Beurteilung findet; aus sich heraus nämlich läßt sich kein Einzelding in seinem Wesen begreifen, aus dem Vergleich mit einem anderen aber läßt es sich anscheinend erkennen. 188 Was aber nicht fähig ist, für sich selbst zu zeugen, [386 M.] sondern der Fürsprache eines anderen bedarf, bietet keine sichere Gewähr für seine Zuverlässigkeit; und so werden auch aus diesem Grunde diejenigen, welche leichthin jedes beliebige Ding anerkennen oder leugnen, widerlegt. 189 Und was ist dabei zu verwundern? Wenn man näher an die Tatsachen herangeht und einen klareren Blick auf sie richtet, wird man zur Erkenntnis gelangen, daß kein einziges Ding sich unserer Wahrnehmung in seinem einfachen Wesen darbietet, sondern alle mit den kompliziertesten Vermengungen und Mischungen.[2] [46] 190 Zum Beispiel gleich die Farben, wie nehmen wir sie wahr? Nicht zusammen mit der Luft und dem Lichte, äußeren Dingen, und mit der Feuchtigkeit im Sehorgan selbst? Auf welche Art prüfen wir das Süße und Bittere? Etwa ohne die in unserem Munde befindlichen naturgemäßen und naturwidrigen Speichelsäfte? Doch wohl nicht.[3] Wie ferner? Die Düfte des angezündeten Räucherwerkes bringen uns doch nicht die einfache und reine Natur der


  1. Der 8. τρόπος des Sextus.
  2. Der 6. τρόπος des Sextus, der von Philo abweichend von der Aufzählung der τρόποι bei Sextus und Diogenes Laertius IX 79–88 erst als siebenter behandelt wird.
  3. οὐ δήπου betrachte ich als Antwort, nicht, wie Wendland, als Frage.
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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/065&oldid=- (Version vom 5.10.2021)