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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

oder irgend einer Erscheinung zuzustimmen, als ob diese die Wahrheit sicher in sich trüge.[1] Ist ja doch die menschliche Natur nie und nimmer fähig, entweder auf Grund von Überlegung Klarheit zu gewinnen oder dieses zu wählen, weil es wahr und nützlich sei, von jenem aber sich abzukehren, weil es falsch sei und Schaden [383 M.] verursache. 167 Denn tiefe Finsternis, die über alles Sein, Körper und Dinge, ausgegossen ist, läßt es nicht zu, das Wesen jedes einzelnen Dinges zu erblicken.[2] Wenn aber jemand aus Neugier oder Wißbegier durch das Dunkel gewaltsam hindurchdringen wollte, der stößt wie die Geblendeten[3] an die Dinge, die ihm vor den Füßen liegen, an, bevor er aber noch etwas ergriffen, fällt er, ohne den Zweck zu erreichen, zurück oder er tastet sich mit seinen Händen (bis zu den Dingen),[4] berührt sie, ohne daß sie ihm deutlich werden und sucht ihr Wesen zu erraten, erwirbt aber bloß eine Vermutung statt der Wahrheit. 168 Ja, selbst wenn die Bildung mit Fackelschein voranleuchtete und den Geist geleitete und ihm ihr eigenes Licht zur Schau des Seins ansteckte, könnte sie nicht mehr nützen als schaden; denn ihr Lichtschein reicht nur eine kurze Strecke weit und muß von der großen Finsternis verlöscht werden; erlischt er aber, ist jedes Sehen unnütz.[5] 169 Wer sich jedoch prahlerisch seiner richtigen


  1. Darin liegt der Dünkel Lots; sein Frevel gegen Gott (nach Philo, Über die Nachk. Kains § 175) darin, daß diese Selbstüberschätzung die Anerkennung Gottes als des Schöpfers und Vaters des Alls ausschließt. Etwas anders wird die Geschichte von Lot und seinen Töchtern erklärt in den Quaest. in Gen. IV 55–58. Eine Besprechung und Parallelen dazu bei Wendland, Neu entdeckte Fragmente Philos, S. 77.
  2. Dies Bild scheint bei den Skeptikern geläufig gewesen zu sein; Carneades und Philo von Larissa haben es gebraucht (A. Goedeckemeyer, Die Geschichte d. griech. Skeptizismus, S. 59, Anm. 7; S. 123); und unser Schriftsteller verwendet es fast mit den gleichen Worten, Ü. Joseph § 140, in einem Zusammenhang, der auf Aenesidem als Quelle hinweist, wie v. Arnim gezeigt hat (Quellenstudien zu Philo von Alexandria S. 94ff.).
  3. πεπηρωμένος bezeichnet „im guten Griechisch“ nicht nur den allgemeinen Begriff der ,Verstümmelung‘, „sondern wird ohne weiteren Beisatz speziell vom ,Blinden‘ gebraucht“. (Jakob Bernays, Die heraklit. Briefe S. 132.) – „Daß hier πεπηρωμένος nach spätem Sprachgebrauch geblendet heißt, lehrt der Zusammenhang“ (v. Arnim, a. a. O. S. 57, 3).
  4. Der Ausdruck ἐφαπτόμενος steht hier, wie sonst bei Philo ψηλαφῶν, das er sowohl aus der Bibel (5 Mos. 28, 28. 29), wie aus Platos Phädo 99 B in Verbindung mit der Vorstellung von der Finsternis kennt (vgl. z. B. Ü. d. Erben d. Göttl. § 250).
  5. Die vorherige Annahme der Blindheit des erkennenden Subjektes ist hier aufgegeben und statt ihrer die Unerkennbarkeit der Objekte betont.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/060&oldid=- (Version vom 21.5.2018)