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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Finsternis, über unsere Seele breiten. [40] 162 Es gibt zwei verschiedene Arten von Unwissenheit: die eine einfach, die vollständige Stumpfsinnigkeit, die andere doppelt, wann jemand nicht bloß mit Unwissenheit behaftet ist, sondern auch glaubt zu wissen, was er keineswegs weiß, und sich in falschem Weisheitsdünkel überhebt.[1] 163 Das erstere Übel nun ist geringer, da es nur leichtere und fast unfreiwillige Vergehen verursacht, das letztere größer; denn es gebiert schwere und nicht nur unfreiwillige, sondern schon vorsätzliche Verbrechen.[2] 165 Darüber ist, scheint mir, Lot, der Töchtervater, am meisten in Not, der nicht die Kraft hat, in seiner Seele einen männlichen und vollkommenen Sproß groß zu ziehen; denn nur zwei Töchter hatte er von der Frau, die versteinert wurde; sie könnte man treffend mit dem Namen Gewohnheit bezeichnen. Diese ist ein wahrheitsfeindliches Wesen, und wenn man sie weiterzuführen versucht, bleibt sie zurück, sieht sich nach dem Altväterischen und Vertrauten um und bleibt wie eine leblose Säule mitten darunter stehen. 165 Von den Töchtern aber soll die ältere Ratschluß, die jüngere Zustimmung heißen;[3] denn auf die Beratung folgt die Zustimmung, aber kein Mensch berät sich noch weiter, hat er schon zugestimmt. Der Geist nimmt nun Platz in seinem Sitzungssaal und beginnt seine Töchter gründlich vorzunehmen und mit der älteren, dem Ratschlusse, alles bis ins Einzelne zu betrachten und zu durchforschen, zusammen mit der jüngeren aber, der Zustimmung, leichtfertig allem, was ihm in den Weg läuft, zuzunicken und das Feindliche wie Befreundetes zu begrüßen, wenn es ihm auch nur einen winzigen Anreiz zur Lust darbietet.[4] 166 Solches leidet der Verstand nüchtern nicht, nur wenn er im Banne der Trunkenheit und gleichsam sinnlos durch Weingenuß ist. [41] Darum heißt es: „Sie gaben ihrem Vater Wein zu trinken“ (1 Mos. 19, 33). Vollständiger Stumpfsinn (ist es), daß der Geist glaubt, er sei aus sich selbst imstande, das Zuträgliche zu beschließen


  1. Über den Irrtum und die Sünde dessen, der in Selbstüberhebung die Allmacht Gottes verkennt, hat Philo §§ 36–47 gesprochen.
  2. Über den Unterschied unfreiwilliger und freiwilliger Fehler s. die Anm. 3 zu § 125.
  3. Während der Name der Älteren stets als βουλή gedeutet wird, heißt die Jüngere bald συναίνεσις, wie hier, bald συγκατάθεσις (Ü. d. Nachk. Kains 175), bald admissio (Quaest. in Gen. IV 55ff.).
  4. Den Sinn dieser Ansicht können wir aus Quaest. in Gen. IV 56 und 58 erschließen. Nicht jeder Vorstellung darf der Stoiker zustimmen, sondern nur der καταληπτικὴ φαντασία.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/059&oldid=- (Version vom 21.5.2018)