Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/057

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Zucht zur Führerin erkoren haben, während der frühere der der Trunkenen war, dessen Anführerin die Zuchtlosigkeit war.[1]

[38] 154 Da nun die Trunkenheit nicht nur das alberne Schwatzen, das ein Erzeugnis der Zuchtlosigkeit ist, sondern auch die völlige Stumpfsinnigkeit offenbar machte, die leibliche Stumpfsinnigkeit aber vom Weine verursacht wird, die seelische dagegen durch das Nichtwissen all dessen, wovon man ein Wissen in sich aufgenommen haben sollte, müssen wir auch kurz über die Unwissenheit sprechen und wollen nur das, was hierher gehört, vorbringen.[2] 155 Welchem körperlichen Leidenszustande sollen wir denn den seelischen, welcher Unwissenheit heißt, eher vergleichen als der Verstümmelung der Sinneswerkzeuge? Wer also eine Beschädigung an Augen und Ohren erlitten hat, ist unfähig, nach etwas zu sehen oder zu hören; er kennt nicht Tag und Licht, um derentwillen allein, um die Wahrheit zu sagen, das Leben erstrebenswert ist, seine Hausgesellen sind lange Finsternis und ewige Nacht, taub ist er allem gegenüber, dem kleinen wie dem größeren; mit Recht pflegt man ihn im Leben einen Invaliden zu nennen. 156 Und wenn auch alle Kräfte des übrigen Leibes, selbst bis zur äußersten Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und Stärke gelangten, die Verstümmelung an Augen und Ohren stellt ihnen ein Bein und sie tun einen so tiefen Fall, daß sie sich nicht mehr vom Boden erheben können; denn was dem Menschen Stütze und festen Halt verleiht, sind wohl dem Worte nach seine Füße, in Wirklichkeit aber Ohren und Augen; hat er diese unversehrt, dann ist er wach und aufrecht,[3] ist er jedoch ihrer beraubt, dann wankt er und wird ein für alle Mal zu Boden gezogen. 157 Eine ganz ähnliche Wirkung ruft nun in der Seele die Unwissenheit hervor; sie beschädigt das Sehende und Hörende an ihr und verwehrt dem Lichte und dem Worte den Eintritt, diesem, damit es nicht aufkläre, dem anderen, damit es das Seiende nicht sichtbar werden lasse; dadurch nun, daß sie tiefes Dunkel und viel Begriffsverwirrung[4] über die Seele


  1. Der Schriftsteller verweist hier auf das Lied der Trunkenen, die das goldene Kalb umtanzen; die Bibelstelle 2 Mos. 32, 17–19 hat er in den §§ 96–105 und §§ 121–125 behandelt.
  2. Das ist der zweite Punkt der von Philo § 4–6 gegebenen Einteilung.
  3. Das Verbum ἀνορθιάζω gebraucht Philo hier in der Bedeutung von ἀνορθόω.
  4. Das griechische Wort ἀλογία kann ebenso das Fehlen von λόγοι bedeuten, wie den Gegensatz zu λόγος. Hier überwiegt wohl neben φῶς : σκότος die erstere Bedeutung, doch schillert auch das Merkmal unlogische Unordnung WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt Wirrwarr herein. Aber auch der positive Vorstellungsinhalt, dessen Gegenteil ἀλογία hier hauptsächlich bezeichnet, ist doppelsinnig: er bezeichnet sowohl mit Rücksicht auf ἀκούοντα das Wort, wie mit Rücksicht auf ἄγνοια und ἐν ψυχῇ den mit dem Worte verbundenen Begriffsinhalt.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/057&oldid=- (Version vom 21.5.2018)