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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

habe ich nicht getrunken und meine Seele will ich ausschütten vor dem Herrn“ (1 Kön. [= Sam] 1, 15). Welch großer Freimut der Seele, die der Gnadengaben Gottes voll ist! 150 Zuerst nun bezeichnete sie sich selbst als „rauh, sanft“ mit einem Seitenblicke auf das höhnende Knäblein; – denn diesem und jedem Unverständigen gilt der zur Tugend führende Weg[1] für rauh, ungangbar und sehr beschwerlich, wie es auch einer von den Alten[2] mit folgenden Versen bezeugt:

Die Untauglichkeit freilich, die kannst du haufenweise dir nehmen.
Doch vor die Tüchtigkeit setzte den Schweiß ein unsterblicher Gott.
Lang und steil ist der Pfad und rauh im Beginne,
Der dich hinführt zu ihr; doch wenn du die Höhe erreicht hast,
Gehst du dann leicht auf ihm, war er auch nach so beschwerlich. –

[37] 151 sodann behauptet sie (Anna), Wein und berauschendes Getränk nicht zu sich genommen zu haben, indem sie sich ihrer ununterbrochenen, lebenslänglichen Nüchternheit rühmt; tatsächlich ist es ja auch eine große und bewundernswerte Sache, eine ungebundene, freie und ungetrübte Vernunft zu haben, die von keiner Leidenschaft im Rausch mißhandelt wird. 152 Hieraus folgt, daß der mit lauterer Nüchternheit gesättigte Geist ganz und gar ein Trankopfer wird und sich Gott darbringt. Was hießen denn die Worte: „Ausschütten will ich meine Seele vor dem Herrn“, anderes als: ich will sie ihm in ihrer Gänze weihen, will ihre Fesseln, die sie früher einschnürten und die um sie das eitle Streben des sterblichen Lebens geknüpft hatte, alle lösen,[3] will sie weit hinausführen und sie so weit erstrecken und ausgießen, daß sie auch die Grenzen des Alls berühre und zu der wunderschönen und gepriesenen Schau des Ungewordenen sich dränge?

153 Der eben geschilderte ist der Chor [381 M.] der Nüchternen, die sich die


  1. Das Femininum des griechischen Adjektivs ἥμερος bezeichnet sowohl die Eigenschaft der Milde, Sanftheit bei einer Frau, wie es einen geebneten Weg bezeichnen kann, auf welchem die Hindernisse weggeräumt sind (vgl. Plato Ges. VI S. 761A). Auf dieser doppelten Bedeutung ruht Philos Auslegung.
  2. Hesiod in den „Werken und Tagen“ V. 287, 289–292; auch hier erscheint der Weg der Tugend beschwerlich und leicht. – Auf diese Hesiodstelle spielt Philo auch Ü. d. Nachkommen Kains § 154 an.
  3. Philo setzt die Partizipien durchweg in männlicher Form, wiewohl er die Worte der Anna umschreibt, – da jeder das Folgende als eigenes Erlebnis mitfühlen soll.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/056&oldid=- (Version vom 21.5.2018)