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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Getränk werdet ihr nicht trinken, du und deine Söhne nach dir, wann ihr hineingehet in das Stiftszelt oder wenn ihr zum Altare hintretet.“ Mit diesen Worten spricht er nicht so sehr ein Verbot aus, als vielmehr eine Ansicht;[1] denn wer verbietet, müßte passend sagen: „Trinket keinen Wein, wenn ihr Opfer darbringt!“ Wer dagegen nur eine Ansicht äußert: „Ihr werdet nicht trinken.“ Ist es ja doch tatsächlich unmöglich, daß jemand, der sich in den allgemeinen und besonderen Tugenden übt und sich in ihrem Reigen bewegt, der Zuchtlosigkeit Eingang bei sich gestatte, der Ursache der Trunkenheit und des Rausches der Seele. 139 Das Zelt nennt (die heilige Schrift) oft[2] das „des Zeugnisses“,[3] entweder insofern der untrügliche Gott Zeuge der Tugend ist, dem anzuhangen sittliche Pflicht und nützlich ist, oder insofern die Tugend den Seelen Sicherheit dadurch verleiht, daß sie die unschlüssigen und zweideutigen Gedanken machtvoll ausschneidet und die Wahrheit im Leben [379 M.] wie in einer Gerichtshalle enthüllt. [35] 140 Wie (die heilige Schrift) ferner sagt, wird der in Nüchternheit Opfernde gar nicht sterben,[4] da nur Zuchtlosigkeit den Tod herbeiführt, Zucht aber Unvergänglichkeit; denn so wie bei unserem Körper Krankheit die Ursache der Auflösung, Gesundheit jedoch die des Wohles ist, ebenso ist bei den Seelen die Einsicht, die ja auch eine Art von Gesundheit der denkenden Seele ist, der Faktor der Erhaltung, während der des Verderbens die Unvernunft ist, die über jene (die Seele) eine unheilbare Krankheit hereinbrechen


  1. Das Futurum steht in der LXX öfter, ebenso wie im Hebr., für den Imperativ; bei einem Verbot konkurriert in der gemeingriechischen Sprache der Imperat. Praes. und Konjunkt. Aoristi (Negation μή) mit dem Indik. Fut. (Negation οὐ), aber dennoch mit einem deutlich gefühlten Unterschied in der Bedeutung (Vgl. L. Radermacher, Neutestamentl. Grammatik¹, S. 136 und Wiener Studien XXXI, S. 4).
  2. 2 Mos. 33, 7 u. ö.
  3. Ich lese: τὴν δὲ σκηνὴν „μαρτυρίου“ καλεῖ πολλάκις; denn erklärt wird in den beiden mit παρόσον eingeleiteten Sätzen, warum das Zelt, bisher das Symbol der Idee der Tugend, Zelt „des Zeugnisses“ genannt wird. Wendlands Interpunktion ergäbe die schiefe Auffassung, als ob die beiden Sätze den Grund für καλεῖ πολλάκις enthielten.
  4. [Philo mißversteht absichtlich den Ausdruck, der natürlich nur besagen will, daß der nüchtern Opfernde dem Tode entgeht, den der Trunkene finden müßte. Mit Vorstellungen, wie Alleg. Erkl. I 106f. (vgl. die Anm.), hat der hier vorgetragene Gedanke schwerlich zu tun, sicher nicht mit der talmudischen Meinung, daß bestimmte biblische Persönlichkeiten „nicht gestorben seien“ (z. B. Taanit 5 b). I. H.]
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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/053&oldid=- (Version vom 21.5.2018)