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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Frieden auswandert und übersiedelt, und vom sterblichen und verworrenen Heerlager zum kampflosen und friedlichen göttlichen Leben der vernünftigen und glücklichen Seelen.[1] [26] 101 Es heißt ja auch an einer anderen Stelle: „Sobald ich aus der Stadt gegangen, werde ich meine Hände ausbreiten zum Herrn, und die Stimmen[2] werden aufhören“ (2 Mos. 9, 29). Man glaube nur ja nicht, der hier Sprechende sei ein Mensch, dieses Gewebe oder dieses Flechtwerk oder diese Mischung aus Leib und Seele, oder wie man sonst dies zusammengegesetzte Lebewesen bezeichnen soll,[3] sondern der sonnenklarste, reinste Geist; ist er in der „Stadt“ des Körpers und des sterblichen Lebens eingeschlossen, dann ist er eingeschränkt, ist gefangen und wie in einem Gefängnis eingesperrt und kann, wie er unumwunden zugibt, nicht einen einzigen Atemzug in freier Luft tun; verläßt er aber diese Stadt, dann fallen die Fesseln, wie bei den Gefangenen von Füßen und Händen, bei ihm von seinen Vorstellungen [373 M.] und Gedanken, und er wird seine losgebundenen und freigelassenen Kräfte betätigen, so daß die Zurufe der Leidenschaften sofort verstummen. 102 Oder schreit etwa die Lust nicht mit angespannter Kehle ihre Rufe hinaus, durch die sie das, was ihr lieb ist, zu befehlen pflegt? Ist nicht die Stimme der Begierde unverwüstlich, wenn sie schwere Drohungen gegen die ihr nicht Willfährigen ausstößt, und ist der Lärm jeder einzelnen der übrigen (Leidenschaften) nicht vieltönig und laut? 103 Aber freilich selbst wenn jede der Leidenschaften tausend Münder und Zungen[4] in dem von den Dichtern so genannten „Kampfgetümmel“ gebrauchte,[5] wäre sie nicht imstande, die Ohren des Vollkommenen zu verwirren, wenn er seine Übersiedlung bereits vollzogen hat und entschlossen ist, nicht mehr die gleiche Stadt zu


  1. Anders erklärt Philo diesen Bibelvers Alleg. Erkl. II 54f. III 45f. Ü. d. Nachstell. 160.
  2. Das hebr. קֹלוֹת‎ übersetzt die LXX mit φωναί; gemeint ist das Gewitter (im Hebr. nach seiner akustischen Wirkung bezeichnet), das Moses durch das Erheben seiner Hände zum Verstummen bringt.
  3. Das sinnlich wahrnehmbare und individuell bestimmte Abbild des Urmenschen ist nach der Schöpfungsgeschichte (Ü. d. Weltschöpfung 135.) aus irdischer Substanz und göttlichem Hauche, im Sinne des platonischen Dualismus aus Seele und Leib zusammengesetzt; das Wesentliche des Menschen ist Seele und Geist, neben denen das Körperliche bedeutungslos ist (Ü. d. Trunkenh. 69).
  4. Vgl. Homer Ilias II 489.
  5. Den Anstoß, den Wendland an der Überlieferung nahm, suchte ich Wiener Studien XLV S. 118 durch den Einschub παθῶν <ἐν> τῷ zu beheben.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/042&oldid=- (Version vom 21.5.2018)