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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

aufführen, singen und ein Lied anstimmen, kein liebliches Trink- und Umzugslied wie bei Festen und fröhlichen Gelagen, sondern eigentlich ihren eigenen Grabgesang, als wären sie selbst schon tot, da sie ja volltrunken wie in einem Weinrausche sind und die Spannung ihrer Seele gelöst und vernichtet haben. 96 Denn es heißt: „Als Josua hörte das Geschrei des Volkes in seinem Lärm, sprach er zu Moses: ‚Ein Kriegsgeschrei ist im Lager‘. Er aber sprach: ‚Das ist kein Geschrei von Leuten, die den Siegesruf anheben, kein Geschrei von Leuten, die ihre Niederlage ausrufen, sondern Geschrei von Leuten, die beim Weine singen, höre ich‘. Und als er dem Lager nahete, sieht er das Kalb und die Reigentänze“ (2 Mos. 32, 17–19). Was er damit dunkel andeutet, das wollen wir, so gut wir es vermögen, darlegen. [25] 97 Unser Inneres ist zeitweilig ruhig, zeitweilig ist es aber bewegt und schreit förmlich im Übermaß auf. Die Ruhe bedeutet tiefen Frieden, das Gegenteil unversöhnlichen Krieg. 98 Untrüglicher Zeuge hiefür ist, wer (solches) an sich erlebt hat; sowie er nämlich die Stimme des Volkes schreien hört, sagt er zu dem bedächtigen Aufseher seiner Handlungen: „Ein Kriegsgeschrei ist im Lager“. Solange nämlich in uns die unvernünftigen Triebe nicht erregt wurden und nicht „schrieen“,[1] ruhte der Geist ziemlich unbewegt; als sie aber die leidenschaftlichen Gefühle zusammenriefen und aufweckten und begannen, die Veste der Seele von lautem Rufen und Geschrei widerhallen zu lassen, erzeugten sie den Bürgerkrieg. 99 Krieg gibt es im „Heerlager“, sehr natürlich;[2] wo denn anders gibt es Zwist, Kampf, Streitsucht und alle möglichen Wirkungen unvernichtbaren Krieges, als in dem leiblichen Leben, das (die heilige Schrift) hier allegorisch Heerlager nennt?[3] Dieses verläßt gewöhnlich der Geist, wann er, von Gott ergriffen, zu dem Seienden selber kommt[4] und die unkörperlichen Ideen schaut. 100 Denn es heißt: „Moses nahm sein Zelt und schlug es außerhalb des Lagers auf“, und zwar nicht in der Nähe, sondern sehr ferne und „weitab von dem Lager“. (2 Mos. 33, 7). Durch diese Worte deutet (die heilige Schrift) an, daß der Weise vom Krieg zum


  1. Der Gebrauch desselben Zeitwortes will von Philo als Zitat aus dem Bibelverse verstanden sein.
  2. D. h. diese Angabe des Bibelverses ist, allegorisch genommen, sehr berechtigt.
  3. Vgl. Alleg. Erkl. III 46.
  4. Der Geist verläßt den Menschen im Zustand der Ekstase. Vgl. außer den bei Leisegang, Der hl. Geist 212, 1 gesammelten Parallelstellen noch Ü. d. Riesen 53f.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/041&oldid=- (Version vom 21.5.2018)