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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

einen Menschen, sondern den mit der Seele verbrüderten[1] Leib abtöten werden, d. h. das Leidenschaftliebende und Sterbliche von dem Tugendliebenden und Göttlichen trennen werden. Wir werden auch „den Nächsten“ töten, wiederum nicht einen Menschen, sondern den Reigen und Schwarm der Sinnlichkeit; dieser ist nämlich zugleich zugehörig zur Seele und ihr feind,[2] da er ihr Köder und Fangnetze legt, damit sie, von dem Zuflusse der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände überflutet, niemals mehr zum Himmel emportauche und die geistigen gotthaften Wesen liebevoll begrüße. Wir werden auch „den nächsten Anverwandten“ töten; am nächsten verwandt aber mit der Denkseele ist die in der Sprache sich äußernde Vernunft, die mit wahrscheinlichen Bildern und Scheingründen ihr falsche Meinungen beibringt, um ihren wertvollsten Besitz, die Wahrheit, zu vernichten.[3]


  1. Nach dem Beispiele Platos, der für nahe Beziehungen auch zwischen Dingen, zwischen psychischen Zuständen und abstrakten Vorstellungen „ἀδελφός“ übertragen gebraucht (Phädrus 238 B, 276 D; Phileb. 21 B, Tim. 52 B u. ö.)‚ verwendet Philo diese metaphorische Ausdrucksweise mit Vorliebe; z. B. Ü. d. Trunkenh. § 74. 76. Ü. d. Nachk. Kains 30. 61. 183. All. Erkl. II 20. 24. u. ö. – Hier ist an die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele gedacht, zugleich aber an die Einkerkerung der Seele im Leibe.
  2. Soweit sinnlich Wahrnehmbares perzipiert werden soll, ist die αἴσθησις die unerläßliche Voraussetzung für die Tätigkeit der Seele; jene wird von Philo De congr. erud. gr. § 20f. geradezu als σωματοειδέστερον ψυχῆς μέρος, De migr. Abr. 3, so wie oben, als συγγενὲς καὶ ἀδελφὸν διανοίας bezeichnet. Dieselbe Stellung nimmt die sinnliche Wahrnehmung übrigens dem νοῦς gegenüber ein, als dessen Helferin sie öfter erklärt wird (All. Erkl. I 83. II 8. III 61ff.), den sie ernährt, indem sie ihm das Material liefert (Ü. d. Pflanz. N. 133). Andererseits aber verlangte das Ziel der philonischen Ethik, die auf dem anthropologischen Dualismus begründet ist, die Überwindung der Sinnlichkeit und daher die Bekämpfung der αἴσθησις. Vgl. die bei Jos. Kroll, Die Lehren d. Hermes Trism. 347, 2 gesammelten Stellen.
  3. Bei der Umformung der von der Stoa übernommenen Unterscheidung des λόγος ἐνδιάθετος (der dem Menschen innewohnenden Vernunft) vom προφορικός (der in der Sprache geoffenbarten Vernunft) hat zwar Philo die Verwandtschaft beider in ähnlichem Sinne wie hier betont (z. B. Ü. d. Nachstell. 40. 126. Ü. d. Nachk. K. 100), den προφορικὸς λόγος jedoch der Welt der Sinnlichkeit und des Materiellen näher gestellt: Die Sprache steht zwar um eine Stufe höher als die in unserer Schrift eben vorher behandelte αἴσθησις, aber um eine Stufe tiefer als der νοῦς (De congr. erud. gr. 100). – Gott, der die Seele des Menschen reinigen will, gibt ihr zum vollkommenen Heile die Möglichkeit, aus drei Bezirken auszuwandern, aus dem Bezirke des Körpers, der Sinnlichkeit und der in der Sprache sich äußernden Vernunft (De migr. Abr. § 2). Erst nach dem Verlassen dieser Gebiete kann der νοῦς καθαρός das Reich des Geistigen schauen. (Vgl. Ü. d. Riesen 52.) – Nach WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt der Wahrheit (ἀλήθεια), dem Schönsten und Höchsten im Leben, verlangt nur der λόγος ἐνδιάθετος (Ü. d. Einzelges. IV 69). Die Sprache dagegen täuscht durch die Schönheit der Worte und entfernt so den Menschen von der Schönheit der Wahrheit, die in dem Wesen und dem Urbild des Bezeichneten zu suchen ist. (De migrat. Abrah. 12).
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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/030&oldid=- (Version vom 17.1.2018)