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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

der Mutter hinwegsehen und sich mit aller Kraft an die des Vaters halten; diese hat denn auch die rechte Vernunft der höchsten Ehre, des Priesteramtes, für würdig erachtet. Gehen wir aber ihre Taten durch, auf Grund deren sie dieses Ehrenamt erlangt haben, dann werden wir uns vielleicht von vielen Spott zuziehen, die sich durch die nächstliegenden Vorstellungen täuschen lassen, die unsichtbaren und verschleierten Bedeutungen dagegen nicht verstehen. 66 Denn äußerst sonderbarer Weise sind diejenigen, denen die Gebete, die Opfer und jede heilige Handlung im Tempel anvertraut ist, Menschenmörder, Brüdertöter, die an den Leib ihrer nächsten Verwandten und besten Freunde selbst die Hand zum Morde angelegt haben, obwohl man doch (zu jenem Amte) Reine und Abkömmlinge von Reinen hätte wählen sollen, die zu keinem unfreiwilligen, geschweige denn zu einem absichtlichen[1] Blutfrevel die Hand hätten hergeben dürfen. 67 Denn es heißt: „Tötet ein jeder seinen Bruder und ein jeder seinen Nächsten und ein jeder seinen nächsten Verwandten. Da taten so die Söhne Levis, wie Moses gesprochen hatte, und es fielen vom Volke an jenem Tage gegen 3000 Mann.“ (2 Mos. 32, 27. 28). Und diese Leute, die eine so große Menge dahingerafft haben, lobt (Moses) mit den Worten: „Erfüllt habet ihr eure Hände heute dem Herrn, ein jeder an seinem Sohne oder an seinem Bruder, auf daß auf euch Segen gebracht werde“ (2 Mos. 32, 29).[2] [16] 68 Wie wäre das anders zu erklären, als daß die eben Erwähnten bloß nach dem allgemeinen Gewohnheitsrechte der Menschen schuldig sind und bloß die Gewohnheit, die Mutter, die im Staatsleben herrscht und das Volk führt, zur Anklägerin haben, dagegen nach dem Rechte der Natur freigesprochen werden, weil sie den Vater, die rechte Vernunft, zum Verbündeten haben. 69 In Wirklichkeit nämlich töten ja die Priester gar nicht, wie manche vielleicht glauben, Menschen, vernunftbegabte, aus Seele und Leib bestehende Wesen, sondern sie hauen nur aus ihrer Seele alles ab,[3] was dem Fleische verwandt und befreundet ist, [367 M.] in der Ansicht, es zieme sich für die künftigen Diener des allein Weisen, sich von allem Gewordenen abzukehren und sich gegen all dieses als ihren erbitterten Todfeind zu wenden. 70 Dies ist der Grund, warum wir „den Bruder“, nicht etwa


  1. S. oben § 63 Anm. 6.
  2. Philos Text weicht von dem der LXX im Gebrauche der Pronomina an drei Stellen ab.
  3. Mit dem Ausdrucke ἀποκόπτουσι verweist der Schriftsteller auf die Erörterung § 23. 24.
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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/029&oldid=- (Version vom 17.1.2018)