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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

ist doch die schaffende Naturkraft, und der Natur zu folgen ist das Merkmal des erstarkten und wahrhaft männlichen Verstandes.[1] [14] 56 Großartig mutet mich das ehrliche Geständnis der Seele in ihrer Zwiesprache mit sich selber an, ihr fehle die Kraft, sich gegen die scheinbaren Güter zu erheben,[2] und sie bewundere und schätze jedes von ihnen und ziehe es fast sich selbst vor. 57 Denn wer von uns widersteht dem Reichtum? Und wer ringt gegen den Ruhm? Wer von denen, die sich noch durch leere Wahngedanken besudeln, verachtet geradezu Ehre oder Ämter? Überhaupt gar niemand. 58 Solange freilich keines dieser Güter vorhanden ist, reden wir hochtrabend daher, wir seien Freunde der Genügsamkeit, die uns das selbstgenügsame, gerechteste und für Freie und Edelgesinnte einzig passende Leben verschaffe.[3] Wann uns aber die Hoffnung auf eines der genannten Güter oder auch nur ein schwacher Hauch von Hoffnung anzuwehen beginnt, werden wir völlig widerlegt; denn sofort geben wir nach und werden schwach und haben nicht die Kraft, entgegenzutreten und standzuhalten, sondern von der uns vertrauten Sinnlichkeit verraten, lassen wir das ganze Kampfbündnis mit der Seele im Stiche, und laufen, nicht mehr geheim, sondern bereits offen zum Feinde über. 59 Und wohl begreiflich; denn noch haben in uns die weibischen Gewohnheiten


  1. Im Zusammenhang mit der Wertung der Güter, wie hier, wird ein ähnlicher Gedanke geäußert De somn. II 8f. – Die Behauptung, die φύσις, Natur- und Zeugungskraft, sei ein Merkmal der Männer, berücksichtigt wohl die gegensätzlichen Prinzipien der Stoiker, das ποιοῦν und πάσχον, und geht vielleicht bis auf alte pythagoreische Vorstellungen vom ἄρρεν und θῆλυ zurück, die wir aus dem Berichte des Hippolytus kennen. (Diels Doxogr. 557, 10ff.) – Die letzten Worte dieses Abschnittes weisen auf § 33f. zurück.
  2. Das Wort ἀναστῆναι kann sowohl das Erheben von einem Sitze, das Aufstehen, als auch die Erhebung, den Aufstand bedeuten. Im Bibelverse (1 Mos. 31, 35) ist der erstere, von Philo der zweite Sinn gemeint, den er durch das Verbum compositum κατεξαναστῆναι über allen Zweifel hinaushebt.
  3. Die falsche Einschätzung der aufgezählten „Güter“ beruht nach stoischer Lehre darauf, daß die Menschen nicht wissen (vgl. § 57 „noch in ihrem eitlen Wahne verwirrt sind“), nur die ἀρετή sei ein Gut, alles andere belanglos; diese ist dann freilich auch allein selbst genug (αὐτάρκης), die Glückseligkeit zu verschaffen. (Belege StVF IV S. 26 a. b.) Demnach bezeichnet Philo hier mit den Worten: „Freie, Edelgesinnte“ den kynisch-stoischen Weisen im Gegensatze zu den begehrlichen Menschen, die, ohne zu denken, den landläufigen Begierden und der Sinnlichkeit unterworfen sind.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/026&oldid=- (Version vom 17.1.2018)