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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

der vorliegenden Abhandlung ausnehmen, ihre Lehrlinge und Schüler aber, welche die Fürsorge und Leitung aller erziehungs- und bildungsfähigen Seelen erhalten haben, wollen wir in den Kreis unserer Betrachtung ziehen.[1] Der Vater ist also nach unserer Meinung die männliche, vollkommene und rechte Vernunft, die Mutter aber der ganze Reigen der Gegenstände der mittleren und allgemeinen Bildung; ihnen, wie ein Kind den Eltern, zu gehorchen, ist schön und nützlich. 34 Der Vater nun, die rechte Vernunft, gebietet, der Natur zu folgen und sich nach ihr zu richten, und der nackten und unverhüllten Wahrheit nachzugehen, die Mutter dagegen, die Erziehung, sich an das positive, konventionelle Recht[2] zu halten, das in den einzelnen Staaten, Völkern und Ländern von den Altvorderen festgesetzt wurde, die zwar noch nicht der Wahrheit, aber ihrem Scheine zugetan waren.[3]

35 Diese Eltern haben vier Scharen von Kindern; die eine ist beiden Eltern gehorsam; die andere, Gegnerin[4] der ersten, hält sich weder an den Vater noch an die Mutter; von den beiden anderen ist jede


  1. In platonischer Manier wird den idealen Eltern, θεὸς und σοφία, ein graduell tiefer stehendes Elternpaar, ὀρθὸς λόγος und παιδεία, untergeordnet; aus frommer Scheu wird das erste Paar von der Erörterung ausgeschlossen.
  2. Während Gott selbst sich mit der vollkommenen σοφία (ἐπιστήμη) oder mit der ἀρετή in einer Art ἱερὸς γάμος zur Zeugung verbindet, ist hier die menschliche Seele ein Kind des stoisch gedachten λόγος ὀρθός. Sein Gebot ist das Ziel der stoischen Ethik: ἀκολουθεῖν τῇ φύσει. Zum λόγος ὀρθός, der von den Stoikern dem λόγος τῆς φύσεως gleichgesetzt wird und mit dem Naturgesetz (φύσει νόμος) zusammenfällt, tritt in der seit der Sophistenzeit herkömmlichen Antithese das konventionelle, positive Recht der einzelnen Staaten in Gegensatz, welches Philo hier als Gebot der Mutter auffaßt. Die Mutter selbst, eine degradierte σοφία, bezeichnet er als μέση καὶ ἐγκύκλιος παιδεία. (Ausführlicher spricht sich Philo, ganz im Sinne der Stoa, über das natürliche und konventionelle Recht aus Über Joseph § 29ff. vgl. Arnim StVF III 323; man vgl. überdies De migr. Abr. § 95.)
  3. Wie der einzelne Mensch nach Ansicht der Stoiker als προκόπτων seinen λόγος vervollkommnet, die Vollkommenheit aber erst als σοφός erreicht, so wird hier eine solche Entwicklung auf das ganze Menschengeschlecht übertragen. Dies scheint auch einer der Grundgedanken der stoischen Kulturphilosophie zu sein, die wir bei Seneca Epist. 90, in teilweisem Anschlusse an Gedanken des Posidonius, lesen. – (Über ihn als Gewährsmann vgl. I. Heinemann, Poseidonios’ metaphysische Schriften I 88ff.) Bei Philo ist an die ersten Gesetzgeber in den einzelnen Staaten zu denken, von welchen Seneca Epist. 90, 6 spricht.
  4. S. § 80.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/019&oldid=- (Version vom 8.6.2018)