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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

am Stumpfsinne aber die absichtliche und blinde Unwissenheit, an der Unersättlichkeit die schwerste der Leidenschaften der Seele, die Begehrlichkeit, an der Heiterkeit die Erwerbung und zugleich Betätigung der Tugend,[1] an der Entblößung[2] jedoch vieles: mangelnde Erkenntnis der Gegensätze,[3] Unschuld und Schlichtheit der Sitten,[4] Wahrheit, das ist die Kraft, welche die Enthüllung der verschleierten Dinge herbeiführt, indem sie abwechselnd bald die Tugend ablegt, bald die Schlechtigkeit;[5] 7 denn gleichzeitig kann man diese beiden unmöglich abstreifen, aber auch nicht anlegen; wenn man die eine von sich wirft, muß man notgedrungen die andere aufnehmen und sich mit ihr umkleiden.[6] 8 So wie nämlich die Lust und den Schmerz, welche ihrer


  1. Zweck der Ethik ist nicht die bloße Erwerbung der Tugend, sondern auch ihre praktische Anwendung; Über d. Nachstellungen § 60: χρῆσις καὶ ἀπόλαυσις ἀρετῆς τὸ εὔδαιμον, οὐ ψιλὴ μόνον κτῆσις; vgl. De mut. Nom. § 75, Über die Einzelges. III § 186.
  2. Die dreifache Art der γυμνότης wird von Philo Alleg. Erkl. II § 53 bis 64 erörtert. Noch ausführlicher wird er sich, nach den Eingangsworten der Schrift „Über die Nüchternheit“ zu schließen, in dem verlorenen Teil des 2. Buches „Über die Trunkenheit“ darüber verbreitet haben. Hier oben gibt er eine andeutende Disposition des Inhaltes des ganzen 2. Buches „Über die Trunkenheit“.
  3. Die Schwierigkeit, welche die Worte ἄγνοια τῶν ἐναντίων bieten, durch Ergänzungen des Textes aus dem Wege zu räumen, verbietet der philonische Ausdruck ἐπιστήμη τῶν ἐναντίων (Über d. Unveränd. Gottes § 24; Quis rer. div. her. § 207). Philo gebraucht τὰ ἐναντία, abgesehen von der logischen Bedeutung dieses Wortes, im Sinne der Theorie Heraklits, z. B. Quis rer. div. her. § 213f. oder im Sinne der pythagoreisch-platonischen Lehre von den Gegensätzen (ἐναντιότητες) z. B. Über d. Unveränderl. Gottes § 24. – Der Dualismus herrscht in Philos Weltanschauung so vor, daß das Bewußtwerden des Gegensatzes zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch, Geist und Sinnlichkeit, Gut und Böse zu den wesentlichsten Forderungen seiner Ethik gehört; die Unkenntnis der Gegensätze wird an unserer Stelle als γυμνότης bezeichnet.
  4. Das ist die dritte Bedeutung des Begriffes γυμνότης, die Philo Alleg. Erkl. II § 64 angibt.
  5. Die Tugend ist ähnlich wie De fuga et invent. § 110 als Gewand aufgefaßt.
  6. Das Bild vom Aus- und Ankleiden ist durch die Vorstellung der γυμνότης hier ebenso bedingt, wie in dem Abschnitte Alleg. Erkl. II 53f. – Über die weite Verbreitung des Gleichnisses s. Wendland‚ Hermes LI. (1916) S. 482 und Anm. 3.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/010&oldid=- (Version vom 29.10.2017)