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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

diejenigen aber, welche den Wein zu sich nehmen, sind Unzählige, welche wegen ihrer Tugend auch bei ihm (dem Gesetzgeber) in höchster Bewunderung stehen. 3 Bevor wir aber davon zu sprechen beginnen, müssen wir erst all das, was auf den Aufbau der Erörterung hinzielt, genau klarstellen.[1] 4 Das ist, wie ich glaube, folgendes: [2] Für ein Sinnbild[2] nicht eines Dinges, sondern mehrerer, hält Moses den Wein: albernen Schwatzens und verrückten Handelns, vollständiger Stumpfsinnigkeit, unstillbarer und schwer zu befriedigender Unersättlichkeit, Frohsinns[3] und Heiterkeit, und einer Entblößung, die die anderen aufgezählten Zustände in sich schließt und sich in allen zeigt, wie sie nach dem Worte (der Schrift) Noah [358 M.] in seinem Rausche aufwies.[4] Dies alles also, wird behauptet, bewirke der Wein.

5 Tausende aber rühren keinen Wein an, glauben, sie seien nüchtern, und machen sich doch der gleichen Verfehlungen schuldig;[5] und man kann sehen, wie die einen von ihnen töricht handeln und schwatzen,[6] andere in vollständige Stumpfsinnigkeit gebannt sind, andere niemals befriedigt werden, sondern immer nach dem Unerreichbaren dürsten, weil sie des Wissens entbehren, andere hinwiederum sich erheitern und freuen, andere sich tatsächlich entblößen. 6 Am albernen Schwatzen nun ist die strafbare Zuchtlosigkeit Schuld – ich verstehe darunter nicht die Unkenntnis der Bildung, sondern die Abneigung gegen sie[7] –‚


  1. Die hier angekündigte Einleitung ist mit § 10 zu Ende; der Ausdruck ἀκριβωτέον erinnert an Philos Versprechen: Über die Pfl. Noahs § 141: ἐπ’ ἀκριβείας (s. oben Anm. 2).
  2. § 4 leitet zur allegorischen Erklärung über.
  3. Abweichend von Wendlands Textgestaltung halte ich an der Überlieferung der Handschriften fest und interpungiere folgendermaßen: τοῦ ληρεῖν καὶ παραπαίειν, ἀναισθησίας παντελοῦς, ἀπληστίας ἀκορέστου καὶ δυσαρέστου, εὐθυμίας καὶ εὐφροσύνης τῆς τἄλλα περιεχούσης καὶ πᾶσι τοῖς εἰρημένοις ἐμφαινομένης γυμνότητος,… (Ἐπιτύμβιον, H. Swoboda dargebracht, S. 15f.).
  4. 1 Mos. 9, 21; vgl. Alleg. Erkl. II § 60.
  5. Zwei Stellen bei den Propheten, wo von μεθύειν ἄνευ οἴνου, οὐκ ἀπὸ οἴνου gesprochen wird, zitiert Jos. Kroll, Die Lehren d. Hermes Trismegistos S. 378, 2.
  6. Die Stoiker zählten sowohl λήρησις und ληρεῖν (StVF III 163, 11. 179, 16. 20) als auch ἀφραίνειν (StVF III 136, 22) zu den ἁμαρτήματα.
  7. Unter ἀπαιδευσία versteht Philo nach weit verbreitetem Sprachgebrauch nicht bloß den Mangel intellektueller Bildung, sondern auch Unerzogenheit und geradezu Zuchtlosigkeit; das hebt er hier selbst in der Parenthese hervor. Sowie Plato im Phädrus 241 C der παίδευσις das höchste Lob zollt (πρὸς τὴν τῆς ψυχῆς παίδευσιν, ἧς οὔτε ἀνθρώποις οὔτε θεοῖς τῇ ἀληθείᾳ τιμιώτερον οὔτε ἔστιν οὔτε ποτὲ ἔσται), so sieht Philo in der ἀπαιδευσία § 12 τὸ ἀρχέκακον τῶν ψυχῆς ἁμαρτημάτων; denn nach De fuga et invent. § 14 ist ὄντως ἐχθρὸν φύσει WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt παιδεία ἀπαιδευσίᾳ; vgl. Über die Trunkenh. § 140. Dementsprechend finden wir παιδεία bei Philo oft in der Bedeutung „Zucht“; z. B. Über d. Nachkommen Kains § 97: ἡ δὲ ῥάβδος παιδείας σύμβολον, Alleg. Erkl. II 89. 90 u. a.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/009&oldid=- (Version vom 29.10.2017)