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Philon: Über das Zusammenleben um der Allgemeinbildung willen (De congressu eruditionis gratia) übersetzt von Hans Lewy

Natur des Punktes, der Linie, der Fläche und des Körpers, welche Wurzel und Grundlage der genannten (Figuren) sind. 147 Denn woher hat sie (die Geometrie) die Definition, daß der Punkt das ist, was keine Teile hat, die Linie eine Länge ohne Breite ist, die Fläche das, was nur Breite und Länge, der Körper aber das, was drei Dimensionen: Breite, Länge und Tiefe besitzt? Das obliegt der Philosophie, wie dem Philosophen die gesamte Beschäftigung mit den Definitionen. 148 Schreiben und Lesen ist das Lehrfach der niederen Grammatik (welche einige unter Abänderung des Wortes „Grammatistik“[1] nennen), während das der höheren Grammatik die Erklärung der Dichter und Prosaschriftsteller ist. [541 M.] Wenn (die Grammatiker) nun die Teile der Rede behandeln, übernehmen sie und eignen sie sich dann nicht für ihre Zwecke die Entdeckungen der Philosophie an? 149 Denn ihr spezielles Amt ist es zu untersuchen, was eine Konjunktion, ein Nomen, ein Verbum, was ein Gattungsname und ein Eigenname, was ein verkürzter, ein vollkommener Satz, was ein Aussagesatz, was eine allgemeine und spezielle Frage[2], was ein Imperativ,[3] ein Optativ und eine Wunschform ist.[4] Denn sie (die Philosophie) ist es, die die Abhandlungen über vollständige Sätze, Urteile und Prädikate verfaßt hat. 150 Einen Buchstaben als Halbvokal, Vokal oder Konsonant zu erkennen und seinen Namen zu bestimmen, sowie die gesamte Gattung des Lautes, der Buchstaben und der Redeteile, – ist das nicht alles durch die Philosophie erarbeitet und ausgeführt worden? Aber diese Diebe, die kleine Tropfen wie von einem Bergstrom wegnehmen und in ihre noch kleineren Seelen hineinpressen, wagen es ohne zu erröten das Gestohlene für eigenes Gut auszugeben.[5]

[27] 151 Daher fühlen sie sich in ihrer Torheit der Herrin, der die wahrhafte Herrschaft[6] und Festigung des Erkannten obliegt, überlegen.

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Philon: Über das Zusammenleben um der Allgemeinbildung willen (De congressu eruditionis gratia) übersetzt von Hans Lewy. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloCongrGermanLewy.djvu/042&oldid=- (Version vom 10.4.2021)
  1. Vgl. Dionysius Thrax, Ars grammatica § 1 p. 5 ed. Uhlig.
  2. Ἐρώτημα ist eine Frage, die mit ‘Ja’ und ‘Nein’, πύσμα eine, die nur durch einen vollen Satz beantwortet werden kann, vgl. Diog. Laert. VII 66.
  3. Περιεκτικόν (‘Medium’) ist mit Wendland in προστακτικόν zu verbessern, vgl. Arnim, StVF II 99.
  4. Eine ähnliche Liste grammatischer Termini findet sich auch in der Schrift Über die Landwirtschaft § 140.
  5. Zu dieser Erörterung über den Vorrang der Philosophie vor den Einzelwissenschaften, die auf eine stoische Quelle zurückgeht, vgl. Über die Trunkenheit § 49 und Arnim, StVF. II 95ff. 99f.
  6. Die Übersetzung versucht das Wortspiel κύριοςκῦρος nachzuahmen.