Seite:PhiloAbrGermanCohn.djvu/23

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Ueber Abraham (De Abrahamo) übersetzt von Joseph Cohn

wundere dich nicht, denn auch der Geist in dir ist nicht sichtbar. 75 Wer dies erwägt und nicht aus der Ferne, sondern aus der Nähe, aus sich selbst und seiner Umgebung, Belehrung sucht, der wird klar erkennen, dass die Welt nicht der höchste Gott ist, sondern das Werk des höchsten Gottes und Allvaters, der selbst unsichtbar ist, aber alles offenbart und die Natur der kleinen wie der grossen Dinge deutlich zeigt. 76 Denn mit körperlichen Augen wollte er nicht begriffen sein, vielleicht weil es nicht recht wäre, dass das Sterbliche das Ewige berührt, vielleicht aber auch wegen der Schwäche unseres Sehvermögens; denn nicht könnte es die von dem Seienden ausgehenden Strahlen aufnehmen, da es nicht einmal imstande ist, in die Strahlen der Sonne zu blicken. [13 M.] [17] 77 Ein deutlicher Beweis aber, dass durch diese Auswanderung seine Seele sich von der Astronomie und der chaldäischen Anschauung freimachte, ist dieser: es heisst nämlich sofort nach der Auswanderung des Weisen: „Gott erschien dem Abraham“ (1 Mos. 12,7). Hieraus geht hervor, dass er ihm vorher nicht sichtbar war, als er noch in chaldäischer Anschauung befangen auf die Bewegungen der Gestirne achtete und ausserhalb der Welt und der sinnlich wahrnehmbaren Natur durchaus kein harmonisches und geistiges Wesen erkannte. 78 Nachdem er aber seinen Wohnsitz geändert hatte, musste er erkennen, dass die Welt untertan und nicht selbständig ist, nicht herrschend, sondern beherrscht von einem Urheber, von einem, der sie geschaffen. Damals zuerst hat dies der Geist aufschauend wahrgenommen. 79 Denn vorher hatten die sinnlich wahrnehmbaren Dinge eine dichte Finsternis über ihn ausgebreitet, und erst als er diese durch warme und flammende Lehren zerstreut hatte, vermochte er wie bei klarem Himmel eine Vorstellung von dem früher ihm Verhüllten und Unsichtbaren zu gewinnen; und dieser wies in seiner Menschenliebe die an ihn herankommende Seele nicht zurück, sondern kam ihr entgegen und offenbarte ihr sein Wesen, soweit der Schauende es zu sehen vermag. 80 Darum heisst es nicht, dass der Weise Gott sah, sondern dass „Gott“ dem Weisen „erschien“; war es doch einem Menschen unmöglich, von selbst das wahrhaft seiende Wesen zu begreifen, wenn dieses sich

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber Abraham (De Abrahamo) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloAbrGermanCohn.djvu/23&oldid=- (Version vom 11.5.2019)