Seite:PhiloAbrGermanCohn.djvu/11

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Ueber Abraham (De Abrahamo) übersetzt von Joseph Cohn

Menschenhass – denn er ist ein Menschenfreund, wie nur einer –, sondern weil er die Schlechtigkeit verabscheut, die der grosse Haufe liebt, der sich freut über das, was beklagenswert ist, und betrübt ist über das, worüber man sich freuen müsste. 23 Deshalb schliesst er (der Weise) sich ein, bleibt meistens zu Hause und überschreitet ungern seine Schwelle, oder er geht wegen der häufigen Besucher aus der Stadt hinaus und unterhält sich auf einsamem Felde angenehmer im Verkehr mit den Besten des gesamten Menschengeschlechts, deren Körper zwar die Zeit bereits aufgelöst hat, deren Tugenden aber ihre hinterlassenen Schriften lebendig erhalten, teils in Gedichten, teils in prosaischen Werken, durch die die Seele veredelt werden kann. 24 Deswegen sagt er, dass der Versetzte „nicht gefunden wurde“, weil er schwer zu finden und schwer zu fassen ist. Er wird also versetzt aus Unwissenheit in Bildung, aus Unvernunft in Einsicht, aus Feigheit [5 M.] in Mannhaftigkeit, aus Gottlosigkeit in Frömmigkeit, und weiter aus Genusssucht in Enthaltsamkeit, aus Ruhmliebe in Bescheidenheit. Welcher Reichtum kommt diesen Tugenden an Wert gleich? oder ist der Besitz an Herrschaft und Macht nützlicher? 25 Wenn ich die Wahrheit sagen soll, ist der nicht „blinde“[1], sondern scharfblickende Reichtum der Ueberfluss an Tugenden, den man ohne weiteres als echte und gesetzmässige Herrschaft erkennen muss gegenüber den unechten und fälschlich sogenannten Arten von Herrschaft, da er mit Recht die Oberleitung über alles hat. 26 Man darf aber nicht unbeachtet lassen, dass die Reue die zweite Stufe nach der Vollkommenheit bildet, wie nach dem gesunden Körper der Uebergang aus einer Krankheit zur Gesundheit. Das in der Tugend Beständige und Vollkommene steht der göttlichen Macht am nächsten, hingegen die mit einem gewissen Zeitpunkt beginnende Besserung ist ein besonderer Vorzug einer gut veranlagten Seele, die nicht bei ihren kindlichen Spielen verbleibt, sondern mit reiferen und wirklich mannhaften Gedanken

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber Abraham (De Abrahamo) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloAbrGermanCohn.djvu/11&oldid=- (Version vom 9.3.2019)
  1. „Der blinde Reichtum“ ein Lieblingsausdruck Philos zur Bezeichnung des Besitzes an äusseren Gütern. Die Redensart ist aus Plato entlehnt (Gesetze p. 631 c πλοῦτος οὐ τυφλὸς ἀλλ' ὀξὺ βλέπων).