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mich für den glücklichsten Menschen auf der Welt gehalten. Mein Beileid erschwachte plötzlich, Eifersucht beschlich mein Herz. Vor einigen Augenblicken hatte ich noch geglaubt, ich sei ihr einziger Beschützer auf Erden, aber dieser Ring sagte mir, dass es einen andern gebe, der mehr Recht zu ihrer Neigung habe als ich. „Vielleicht,“ dachte ich bei mir selbst, „schwört sie jetzt am Grabe ihrer Mutter dem Auserwählten ihres Herzens ewige Treue!“ Mit so unbegründeten Befürchtungen beunruhigte ich meine Seele in diesem feierlich traurigen Augenblicke!

Das Mädchen stand endlich auf, wischte sich mit dem Ärmel die Thränen ab und das Haupt senkend, schaute sie noch lange auf den mit Schnee bedeckten Sarg der Mutter, mit der sie sich in Gedanken zu verabschieden schien. Als ich ihr ins Gesicht blickte, schwand meine Verdächtigung vollständig.

„Wenn sie liebt,“ dachte ich bei mir, „wo ist denn da der Gegenstand ihrer Liebe? Warum hat sie der Geliebte der Willkür des Schicksals und der Obhut dieser zwei Hexen überlassen? Warum versorgt er sie bei so rauhem Wetter nicht mit wärmerer Kleidung?“

Diese Gedanken beruhigten meine aufgeregte Phantasie und mit neuer Energie machte

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Rafael Patkanjan: Drei Erzählungen. Wilhelm Friedrich, Leipzig [1886], Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PatkanjanDreiErz%C3%A4hlungen.pdf/119&oldid=- (Version vom 1.8.2018)