Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
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wurde Kolesnikow gefangen genommen, verurteilt und auf die Insel Sachalin verbannt. Es gelang ihm aber auszureißen und, sich immer sorgsam vor den Behörden verbergend, zog er im Gouvernement Tomsk im Schutze seiner Anhänger von Ort zu Ort.
Meine wissenschaftlichen Reisen in Sibirien führten mich 1921 auch durch den Südteil des Gouvernements Tomsk. Ich wohnte in einem Dorfe, meinen geologischen Untersuchungen lebend. An einem Sonntage durchstreifte ich den Wald mit meiner Flinte, um dem Wilde nachzujagen. Da erblickte ich ganz plötzlich auf schmalem Waldwege Bauern, welche vorsichtig um sich spähten. Einige von ihnen hielten sich sogar in den Gebüschen verborgen. Vorsichtig schleiche ich ihnen nach und komme mit ihnen vor ein ziemlich hohes Haus mit einem Kreuz auf dem Dache. Es wurde mir klar, daß es irgend eine Sektierer-Kirche war, die man hier ganz im geheimen erbaut hatte.
Unbemerkt schleiche ich mich in das Haus und verberge mich in der dunkelsten Ecke.
Dreißig stark gebaute, hochgewachsene Jägertypen mit schwarzen Haaren und ebensolchen Augen sind in dieser halbdunklen Stube versammelt. In einem Winkel ist ein großer Christus mit der Dornenkrone, schon ganz schwarz von Alter, angebracht. Dünne Wachskerzen brennen davor. Die Bauern flüstern leise miteinander, bekreuzigen sich fromm und schauen ängstlich auf die hohe, magere, unbewegliche Gestalt eines Menschen mit bleichem, abgehärmtem Gesichte und brennenden Augen. Er trägt das lange, wallende Kleid eines Mönches, das mit einem breiten Ledergürtel gehalten wird, hat lange, fast weiße Haare und einen kurzen schwarzen Bart. Zu den Anwesenden sich wendend, flüstert er in einer scharfen und deutlichen Weise: „Betet zu Gott, damit er zu uns komme.“ Alle fangen zu beten an und werfen sich auf die Knie, wobei sie sich ständig verbeugen, sie sehen dabei immer mit ihren Augen, die voller Tränen, in das schwarze, ernste Bild des Dornengekrönten.
Der hohe, magere Mönch kniet nieder, breitet seine Arme aus, heftet seine brennenden Augen ebenfalls auf den Gekreuzigten und flüstert leise mit bleichen, bebenden Lippen vor sich hin.
Plötzlich fährt er auf und läuft aus der Hütte.
Es wird stille rings herum. Niemand rührt sich. Grabesstille herrscht in der Stube. Man hört nur das Atmen der Leute und das leise Knistern der brennenden Kerzen. Durch die Fugen der Wände und das einzige
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/80&oldid=- (Version vom 14.9.2022)