Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
|
Saratow und Ufim niedergelassen, wo die Priester dieser Sekte sich in den Häusern der reichen Kaufleute verborgen hielten.
Eine Sekte, noch grauenhafter als die der Chlysten, trieb auch ihr Unwesen. Besucht man in Petersburg und Moskau die Stadtteile, wo sich die kleinen Wechselstuben befinden, da fällt einem eine Anzahl gelber, verschrumpfter, schläfriger, bartloser Männergesichier, deren fette Körperformen fast wie Frauengestalten aussehen, in die Augen.
Diese Gesichter und diese Gestalten gehören den Bessern dieser Wechselstuben an, welche eine besondere Menschenkaste bilden.
Sie sind alle Skopten, das sind Anhänger einer speziellen Sekte welche des Glaubens ist, daß die Menschheit nur so lange bestehen könne, so lange sich in der Gesellschaft Leute finden, die freiwillig sich der Mittel der Fortpflanzung berauben. So wollen sie die Geburt des Antichrist verhindern.
Die Skopten nennen sich die „weißen Tauben“, was die Unschuld dokumentieren soll. Die einen werden zu Skopten in den Jahren ihrer Kindheit, die anderen erst im Mannesalter. In den Familien, die seit Jahrhunderten zu dieser Sekte gehören, muß immer ein weißer Täubling oder eine weiße Taube sein.
Falls keiner aus der Familie sich dazu hergeben will, überreden die Skopten, ohne an Geldmitteln zu sparen, fremde Leute, in ihre Sekte einzutreten und das Siegel der „weißen Taube“ zu empfangen.
Die Polizei hat diese Sekte und ihre Praktiken scharf bewacht und die Gerichte Rußlands haben diesen Unfug strenge bestraft. Trotzdem hat man die Erhaltung dieses Glaubens in den traditionellen Skoptenfamilien halbwegs toleriert. Die Jaroslauer und Kostromer Gouvernements, aus denen diese reichen Bankiers mit ihren gelben, verwelkten Gesichtern stammen, sind seit Jahrhunderten der Sitz dieser Sekte.
Die Grundlagen ihrer religiösen Abstammung sind mir unbekannt. Doch muß ich bemerken, daß es in den strengsten orthodoxen Klöstern ein düsteres, mittelalterliches Empfangszeremoniell des sogenannten „Großen Siegels“ gibt, wo der Mönch durch Operation der Männlichkeit benommen wird.
Wir sehen daraus, wie uralt diese Reste alter Religionen sind, vielleicht dem Brahmanentum, dem Glauben der Derwische oder den noch älteren Kulten Ägyptens und Babylons entstammend. In den Kulten der Astarte und Isis gibt es Spuren von ähnlichen Riten, die
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/74&oldid=- (Version vom 15.9.2022)