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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens

werden immer rascher, immer gewaltsamer und die Augen der Anwesenden, wie durch einen Taumel gebannt, sind starr auf diesen Priester geheftet. Endlich schnellt er empor und ruft: „Betet und bringet Euere Opfer dar!“

Er ergreift jetzt aus einem im Winkel liegenden Reisigbündel eine lange Rute und fängt an, sich damit über Kopf und Rücken zu schlagen. Wie so die Rute pfeifend die Luft zerreißt, erinnere ich mich an die blutigen Mysterien der Derwische, die ich in der Türkei und in der Krim gesehen. Der „Priester“ hat seine Bluse und sein Hemd weggeworfen und ist bis zum Gürtel entblößt. Das Schlagen mit der Rute wird rascher und immer stärker. Sein ganzer Rücken ist mit roten Streifen durchkreuzt. Blut spritzt heraus und fließt in dünnen Strömen den Rücken hinab. Jetzt stürzt sich die ganze Menge mitsamt meinem Wirte auf die Ruten. Ein allgemeines Peitschen beginnt. Ich höre das Pfeifen der starken und biegsamen Gerten, das schwere Atmen der Anwesenden und ihr Stöhnen. Sie reißen ihre Kleider herunter, um die Tortur bis zum äußersten Gipfel zu führen.

Der Priester, in seiner Geißelung fortfahrend, fängt zu springen und sich auf einem Fuße zu drehen an. Einige von den Anwesenden machen es ihm nach und in ein paar Minuten ist der ganze Haufe in Bewegung, schlägt sich gegenseitig mit den Ruten, etwas Unverständliches vor sich hinmurmelnd und ein Geschrei mit einer sehnsüchtigen und stöhnenden Stimme anhebend.

Einige von ihnen fallen in kurzem um, auch der Priester, während die anderen immerfort ihre Sprünge weiter machen und sich um ihre eigene Achse drehen, dabei die Liegenden zerstampfend.

Die Luft ist mit der Ausdünstung der ermüdeten, schweißtriefenden Körper geschwängert und riecht nach Stiefeln und schmutziger Wäsche.

Jemand löscht die Kerzen aus und beim Scheine eines einzigen am Altar stehenden Lichtes kann ich nur einen Haufen aufeinander liegender, halbnackter, ermüdeter, von Blut triefender, halbtoter Frauen- und Männerkörper erblicken.

Das ist eine „Radienje“.

Was für eine mißverstandene Bibelseite mag wohl diese ungeheuerliche psychisch und moralisch kranke Sekte ins Leben gerufen haben?

Ich denke, daß man ihren Ursprung in den apokryphen Büchern suchen kann, die in großer Anzahl während langer Zeit sich im christlich-byzantinischen

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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/72&oldid=- (Version vom 15.9.2022)