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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens

Die Sekten Rußlands beruhen mehr oder weniger auf gewissen historischen oder kanonischen Grundlagen. Es gibt aber im Norden des Reiches eine Sekte, die mit der Art der meisten Religionsgruppen nichts gemein hat.

Im Norden des Gouvernements von Perm ist mir diese eigenartigste der Sekten begegnet.

Ich habe dort eine große Versammlung halbwilder, unwissender, des Lesens und Schreibens unkundiger, durch den Kampf mit der strengen Natur erschöpfter Bauern besucht.

Träge stehen sie beieinander und blicken apathisch auf eine aus ungehobelten Brettern verfertigte Wand, deren Fugen mit Moos verstopft sind.

Sie haben dabei an gar nichts gedacht, höchstens an Brot und Schnaps. Nach geraumer Weile nähert sich einer der Bauern der Wand und fängt an, in eines der Bretter ein Loch zu bohren. Nachdem er den Balken durchbohrt hat, zieht er langsam und vorsichtig den Bohrer aus der Wand.

Dann fällt er mit allen anderen auf die Knie und beginnt mit grauenhafter Stimme zu heulen:

„Loch, unser heiliges Loch, hilf uns!“

Dieses Gebet dauert Stunden.

Welches stumpfe Gehirn mag diesen einfachsten der Götter ausgebrütet haben? Wer war der Begründer dieser wilden, idiotischen, in ihrer Einfalt und Verblödung fürchterlichen Sekte gewesen?

Niemand bisher vermochte den Grund dieser Sache zu erforschen. Jetzt erst, nach so vielen Jahren fühle ich mich diesem dunklen Rätsel nahe.

Stellen wir uns die ungeheuren Flächen Rußlands vor, den langen, durch viele Monate dauernden Winter, das volle mondenlange Verschwinden

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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/67&oldid=- (Version vom 23.2.2020)