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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens

Fabrik und Gefängnis ist ihr neues Leben. Manchmal gelingt einem die Rückkehr aufs Land, wohin er dann die Sitten und Krankheiten der großen Stadt mitbringt.

Die Bauern, die nach der Stadt gezogen, beschäftigen sich am liebsten mit der Ladung der Barken und Schiffe, da es bei dieser Arbeit das Notwendigste für den Tagesbedarf zu verdienen gibt. Nach dieser Arbeit sehnt sich jeder, der lange Tage und Wochen beim Arbeitsuchen umherirrend, die Straßen der fremden Stadt bei Hunger und Kälte durchwandert und die Nächte im Asyl verbracht hat. Der Mensch wird zum gewöhnlichen Lasttier, Pferd und Maulesel.

Männer und Frauen, zu einem starken, rührig beweglichen Arbeitshaufen zusammengedrängt, verrichten bei Hitze und Kälte, im körperlichen und moralischen Schmutze erstickend, ihre Tagfron.

Kein Gesetz kümmert sich um diese gelegentlichen Arbeiterhaufen, die ja morgen vielleicht nicht mehr da sein werden. Was für ein Kaleidoskop von Typen, was für ein Chaos der Gedanken und Gefühle in solch einem Elendshaufen!

Da ist ein junges Bauernmädchen neben einem entlaufenen Mörder aus dem Kriminalgefängnis, da steht ein Überläufer aus dem Kloster, halb Mönch, halb Landstreicher neben einem gewesenen Regierungsbeamten, der durch den Alkohol auf den Hund gekommen; ein Tatare neben einem Finnen, ein Kalmücke-Buddhist neben einem Anhänger des alten orthodoxen Glaubens, der typische, bis ins Knochenmark verderbte Straßenjunge aus der Großstadt neben einem schreibunkundigen jungen Bauern, der noch von den Seen und Wäldern seines weitabliegenden Heimatdorfes träumt.

Alle laden sie Kohle, Brennholz, Bretter, Balken, Wassermelonen, Obst, Fässer mit Heringen und Butter auf die Barken. Hier an diesem Orte ist alles erlaubt, der Diebstahl ausgenommen, und nur dieser wird scharf und strenge bestraft. Der ganze arbeitende Menschenhaufen muß ohne Rast stets in Bewegung sein und nur um die Mittagszeit wird die Arbeit unterbrochen, damit die Leute eine kurze Stunde essen und sich ausruhen können. Hier wirken sich die verschiedensten Charaktere aus, jeder verderblich in seiner Art. Hier wird die ursprünglichste Moral zur abscheulichsten Ausschweifung und in der Raststunde brüten die Schiffbrüchigen des Lebens, diese Zukunftsbewohner der Gefängnisse und diese Anwärter auf Sibiriens Kolonien ihre finsteren Verbrechen aus.

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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/147&oldid=- (Version vom 14.9.2022)