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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens

herauf und kommen endlich ins Büro, wo die Pässe durchgesehen und die Zimmernummern angewiesen werden. Ein kolossaler halbdunkler Saal mit einer niedrigen Decke, mit einem schmalen Durchgang in der Mitte, wo haufenweise stinkende Fetzen herumliegen, Fetzen, in welche Füße gewickelt waren, bietet den Heimatlosen ein Nachtlager.

An beiden Seiten dieses Durchganges türmen sich fünf Etagen hoch schmutzige, unbedeckte Holzpritschen. Eine heiße, übelriechende, dumpfe Luft herrscht hier, stinkend nach Rauch und Rüß des eisernen Ofens, der kleinen, rauchenden, an der Decke hängenden Petroleumlampe und der Ausdünstung elender und kranker Menschenkörper.

Auf den Holzpritschen liegen Menschen herum, hingeworfen wie unnötige Lumpen oder längst verbrauchtes Gerät, alte und junge, Männer und Frauen, Verbrecher und Tugendhafte, liederliche und ehrliche. Neben einem Jüngling, der sich ans Leben anklammern möchte und noch zum Träumen fähig ist, stirbt ein alter Landstreicher, ohne Hilferuf und ohne Klage sein Ende erwartend, das so dunkel wie das Nachtasyl selbst. In das Ohr eines jungen Landmädchens, fast eines Kindes noch, flüstert ein betrunkener, unsauberer Gassenjunge, groß und stark, mit einem aufgedunsenen Gesicht und roten Haaren, unflätige Worte der Verführung; neben einer still weinenden Frau, die ein Kind in den Armen wiegt, sitzt, lustige Fabrikslieder singend, ein seltsamer Typus, dem Kleide nach ein Mönch, dem Tun und Reden nach ein alter Stammgast der Gefängnisse … und in der Nacht … da geschehen hier schändliche, fürchterliche, düstere Dinge, die Seele und Körper mit Fäulnis zersetzen, das Hirn mit Verzweiflung füllen und das Herz mit Haß durchtränken.

Immer während der Nacht dringt hier die Unfersuchungspolizei ein, revidiert und bescheinigt die Dokumente, schlägt hie und da einen oder schleppt einen anderen ins Gefängnis, jagt allen Schrecken ein, ermüdet die Müden noch mehr. So ist es Nacht um Nacht. Wochen und Monate vergehen, bis der Zeitpunkt kommt, wo endlich die ländlichen Arbeitslosen, welche im Nachtasyl manches gelernt, einem Arbeitsvermittler für schwere Arbeiten in die Hände fallen. Sie sind mit der Stadt nun schon ziemlich bekannt, wissen rasch und dreist zu antworten, vermögen geradeaus in die Augen zu schauen, verbeugen sich nicht mehr bis zur Erde vor einem Heiligenbild und tragen in ihrem Antlitze die Spuren von Haß und kalter Resignation.

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Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/146&oldid=- (Version vom 15.9.2022)