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wir nach alter Sitte auch der Praxis ihr Recht einräumen. Wir treten jetzt bald in die Zeit der Kirchweihen, jener alten volkstümlichen Feste unter christlichem Namen, die noch heute vielfach im Volke der Höhepunkt des festlichen Jahres sind. Von ihnen sagt schon Johannes Agricola, der Landsmann und Zeitgenosse Luthers: „Zu den Kirchmessen gehen die Deutschen zusammen und sind fröhlich und guter Dinge; es geschieht aber des Jahres nur einmal; darum ist es löblich und ehrlich, sintemal die Leute dazu geschaffen sind, daß sie freundlich und ehrlich untereinander leben sollen.“ Wenn wir nun heute unsre Tagung mit einem Mahle, wie es bei den Kirmessen nie fehlen darf, beenden, so handeln auch wir löblich und wandeln in den Bahnen unsrer Vorfahren, zumal wir noch seltner als sie zu solcher Festlichkeit uns zusammenfinden. Doch bevor wir zu dieser leiblichen Nahrung übergehen, gestatten Sie uns noch etwas geistige Vorkost, die Sie mit unsern Zielen bekannt machen und Ihnen zeigen soll, daß das Mägdlein „Volkskunde“, das einst hier in Berlin zu frischer Lebenskraft erwacht, schon ein stattliches und vielbegehrtes Fräulein geworden ist.

Noch nicht zwei Jahrzehnte sind verstrichen, als hier in der Zentrale des deutschen Reiches Karl Weinhold das Aschenbrödel deutscher Wissenschaft an die Hand nahm, es ihres Küchengewandes entkleidete und ihm den ihm gebührenden Sitz bereitete. Seitdem ist das frische Mädchen in seiner Schönheit erkannt und ein Liebling vieler geworden, die mit wissenschaftlichem Ernst Liebe zu ihrem Volke verbinden und einen klaren Blick für das praktische Leben haben. Die zahlreichen Vereine für Volkskunde, die in vielen Ländern und Provinzen Deutschlands unter der Leitung wissenschaftlich geschulter Männer entstanden sind, legen hiervon Zeugnis ab. Eine neue Zeit ist hereingebrochen; unser altes Volkstum schwindet immer mehr. Was von ihm noch vorhanden ist, soll – vielleicht in letzter Stunde – gesammelt, wissenschaftlich bearbeitet und für die Gesamtheit nutzbar gemacht werden, damit uns spätere Geschlechter nicht einer Unterlassungssünde zeihen. Hier ist zugleich ein Gebiet geistiger Arbeit, auf dem der Gelehrte gemeinsam mit dem Laien, dem Mann aus dem Volke tätig sein kann und das sich so trefflich eignet, die Kluft sozialer Gegensätze zu überbrücken. Die Volkskunde ist eine Wissenschaft aus dem Leben und für das Leben. Hierüber wird Ihnen mein Kollege Siebs berichten; mir gestatten Sie nur, daß ich in diesem Mittelpunkte geistigen Lebens und der Wissenschaft in wenigen Zügen auf die befruchtende Tätigkeit der Volkskunde hinweise, die sie auf andre Zweige der Wissenschaft und die Kunst ausgeübt hat.

Wer Volkskunde treibt, muß auch Völkerkunde treiben, d. h. er muß sich mit dem ganzen Ideenkreis der Naturvölker beschäftigen. Wer stammheitliche Volkskunde allein treibt, legt sich selbst eine Scheuklappe an, die ihm nie einen klaren Blick in die seelischen Äußerungen seines Volkes gibt. Nur durch die vergleichende Volks- und Völkerkunde werden uns die kulturellen Überreste unsers Volkes aus längst vergangenen Zeiten, aus seiner Kindheit und Jugend, erst verständlich. Durch diese vergleichende Volkskunde sind zahlreiche Wissenschaften in ganz neue Bahnen gelenkt worden. Was hat man früher nicht alles über den altgermanischen Götterglauben gefabelt und gedichtet: erst durch die Volkskunde wird uns allmählich die Religion unsrer Vorfahren klar, erst durch sie wird den Quellen der Wert zugesichert, der ihnen gebührt. Nach Useners treffenden Bemerkungen liegen die Anfänge und der Entwicklungsprozeß des Glaubens und Kultes aller Kulturvölker in einer vorliterarischen