Im Frühling 1907 ging ich dann in der Tollense-Gegend selbst an die Sammelarbeit heran. Das Aufnehmen der Flurnamen erwies sich als ein vorzügliches Mittel, um in der ganzen Gegend heimisch zu werden und die Leute zu unbefangenen Mitteilungen anzuregen. Ich habe dann bis heute[1] 59 Dörfer der Gegend Penzlin – Neustrelitz – Stargard – Neubrandenburg, zum Teil von Haus zu Haus, abgesucht und eine Fülle von Sagen gefunden, wie sie wohl bei keiner anderen historisch bedeutsamen Stätte bisher aufgedeckt worden ist. Unbeeinflußt durch die Berichte Thietmars und Adams und die Ergebnisse der bisherigen Grabungen hab ich nach Kräften versucht, immer nur den Tatbestand aufzunehmen, niemals etwas in die Leute hineinzufragen, die krausen, sich vielfach direkt widersprechenden Berichte in allen Einzelzügen festzuhalten, und immer wieder die Glaubwürdigkeit des Gewährsmannes zu prüfen und festzustellen, aus welchen Quellen er schöpfte. Vor absichtlichen Täuschungen glaube ich durch vierundzwanzigjährige Sammlererfahrung geschützt zu sein. Aus Zeitungsberichten und den Mitteilungen der Oestenschen Arbeiter geschöpfte Angaben abzuwehren, bedarf es meist nur weniger Worte. Wirklich sagenkundige Leute merken, wenn man ihnen in rechter Weise naht, sofort, worauf es ankommt.
Manche Sagen sind auf zwei und drei Dörfer beschränkt. Die Landesgrenze (seit 1701) und eine Sprachscheide gehen mitten durch das Sagengebiet hindurch. Am reichsten sind die Dörfer, die unmittelbar an der Lieps liegen. In der weiteren Umgebung verblaßt die Sage merkwürdig schnell. Nur die Glockensage geht in einem Umkreis von etwa drei bis vier Meilen ins Land hinein. Aber Leute, die aus jenen Dörfern stammen oder dort einen Teil ihres Lebens verbracht haben, sind natürlich weithin zerstreut: so ist des Suchens kein Ende. Ich habe mir eine, demnächst durch die Kirchenbücher zu vervollständigende Liste aller Familien angelegt, die vor 50 und 100 Jahren in jenen Dörfern ansässig waren, und suche festzustellen, ob und wo noch Nachkommen solcher längst verstorbenen Leute leben, die mir von betagten Gewährsmännern als besonders sagenkundig bezeichnet worden sind. Manche der heute umlaufenden Sagen sind nach sich gegenseitig stützenden Angaben zuverlässiger Gewährsmänner in die dritte und vierte Generation hinauf zu setzen, stammen also aus einer Zeit, wo von einer Rethrafrage überall noch keine Rede war. Es stellt sich heraus, daß bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hinein das Bild von der Wunderstadt und ihren vergrabenen Schätzen den Leuten noch völlig vertraut gewesen ist.
Die ganze Gegend zeichnet sich durch starke Ansässigkeit der Bevölkerung aus, wie denn schon das Zusammenfallen vieler Familiennamen mit Ortsnamen davon zeugt, wie fest die Bevölkerung mit dem Boden verwachsen ist. Fremde Schnitter sind noch heute in einzelnen Dörfern eine unbekannte Erscheinung. Es kommen andere Umstände hinzu, welche die ungewöhnliche Zähigkeit und Lebendigkeit der Überlieferung erklären. Die Schilderungen von Masch lehren, daß die ganze Umgebung der Lieps noch vor 140 Jahren ein erheblich anderes Aussehen hatte, daß zahllose Grab- und Befestigungsanlagen von der alten Zeit zeugten, die seitdem zerstört worden sind: der Bau der Chaussee, die von Neubrandenburg nach Neustrelitz führt und nahe an der Lieps vorbeigeht, hat große Verwüstungen angerichtet. Aber auch die weitere Umgebung, die so reich ist an Resten von Burgen, Schlössern und Klöstern
- ↑ d. h. bis Ende November.
Oskar Dähnhardt (Red.): Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 8. Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 1908, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mitteilungen_des_Verbandes_deutscher_Vereine_f%C3%BCr_Volkskunde_8.djvu/23&oldid=- (Version vom 1.8.2018)