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ziemlicher Höhe des Gebirgs, gegen das Meer hin und lässt die Helligkeit des Himmels hereindringen. Eine schöne weibliche Gestalt, wie sie zu der prächtigen Umgebung stimmt, schreitet den Bergpfad hinab, die Gestalt eines greisen Hirten, der, auf seinen langen Stab gelehnt, die fernen Segel zu beobachten scheint, lenkt den Blick in die Weite des Meeres. – Eine andere Gegend der schönheitgesegneten Gestade des Mittelmeeres zeigt das folgende Blatt: den Strand von Bajä, jener altberühmten Stätte, von deren ehemaligem Glanz und üppigem Luxus nur noch die imposanten Ueberreste der Thermen und wenige andere Trümmer Kunde geben. Am sonnigen Ufer hat sich eine Fischerfamilie zum Mahle gelagert, über das stillruhende Meer blickt aus duftiger Ferne Capri herüber, weiter rechts begränzt das Vorgebirge von Misenum und das mittelalterliche Castell den Horizont.

Unmittelbar aus der sonnigen Klarheit des Südens versetzt uns das folgende Blatt in die Poesie der nordischen Natur, in eine Gegend des Harzes, die sich sogleich als der romantische Schauplatz für allerhand phantastisches Sagen- und Märchenwesen ankündigt. Im Mittelpunkte des Bildes ragt ein mächtiges, bizarr gestaltetes Felsstück, die sogenannte Teufelsmauer, vor der eine finstere Thalschlucht klafft, ein verrufener Ort, wie das steinerne Kreuz zur Seite anzeigt. Ein Paar berittener Edelleute in mittelalterlichem Costüm, denen sich Frauen und Pilger angeschlossen, kommen mit ihren bewaffneten Dienern von rechts und scheinen ihren Weg nach dem Schlosse zu nehmen, das links in der Ferne an dem düstern Horizonte auftaucht. – Auf den „Herbstabend“, den Richter nach einem Oehme’schen Gemälde radirte, ein stimmungsvolles, zart ausgeführtes Blatt, folgt zum Schluss die „Abendandacht“, die zu Richter’s schönsten Compositionen gehört. Ein Paar ungeheuere alte Bäume, deren mächtiges Geäst sich dicht in einander verflicht, überschatten den ganzen Vordergrund, aus dessen dämmrigem Dunkel man zu beiden Seiten der gewaltigen Stämme in den hellen Abendhimmel hinausblickt. In der Oeffnung zur Linken, im vollen Lichtschein, kniet eine Gruppe von Schnittern, ein Mann, Frauen, Mädchen und Kinder, andächtig vor dem Madonnenbild, das an dem Baumstamm, angebracht ist, auf der andern Seite läutet ein Mönch die in dem Geäst verborgene Glocke zum Ave Maria. In dem Rasen des Vordergrundes spielende Kinder; zwei andere haben sich in dem hohlen Stamm des riesigen Baumes versteckt und lugen aus der Höhlung wie kleine Elfengestalten hervor. Der Frieden des Abends klingt in der frommen Andacht der Betenden, wie in dem harmlosen Spiel der Kinder wieder. Nirgends hat das Naturgefühl des Künstlers sich reiner, anmuthiger und rührender ausgesprochen, als in dieser einfachen und doch so poesiereichen Landschaft.



Empfohlene Zitierweise:
Hermann Lücke: Landschaften von Ludwig Richter. Alphons Dürr, Leipzig 1875, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Richter_Landschaften.pdf/12&oldid=- (Version vom 12.12.2020)