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Gorgonen und andere dergleichen Traumgebilde, welche Dichter und Künstler mit ungebundener Freiheit erschaffen, und welche in der Wirklichkeit nie vorhanden waren, noch je vorhanden seyn können. Gleichwohl glaubt der große Haufe daran, und wird, wenn dergleichen Phantasieen seinen Augen oder Ohren dargeboten werden, ganz bezaubert, eben weil sie wunderbar und abentheuerlich sind.

72. So war es also auch irgend ein Mythendichter, von welchem du vernahmst, daß es ein weibliches Wesen von überirdischer, ja die Reize der Gratien selbst und der himmlischen Venus übertreffenden Schönheit gebe; und ohne zu untersuchen, ob der Mann die Wahrheit spricht, und ob wirklich eine solche Sterbliche auf der Welt ist, verliebst du dich augenblicklich in dieselbe, wie einst Medéa von Liebe zu Iason entbrannte, als sie ihn nur erst im Traume gesehen. Was aber dich und alle die, welche von gleicher Liebe zu diesem Phantasiegebilde ergriffen sind, am meisten verführte, war, wie ich vermuthe, die Folgerichtigkeit, mit welcher der Mann, nachdem ihr einmal in seine Glaubwürdigkeit volles Vertrauen gesetzt hattet, das Bild jener Schönheit euch weiter ausmalte. Dieses Folgerichtige hattet ihr allein im Auge; und da ihr euch gleich anfangs ihm gefangen gegeben, führte er euch – vorgeblich auf dem nächsten Wege zu eurer Geliebten, in der That aber – an der Nase herum. So ergab sich sehr leicht alles Weitere: Keinem von euch fiel es ein, an den Eingang zurückzukehren und nachzuforschen, ob dieser auch der rechte Weg, oder ob er nicht etwa auf einen falschen gerathen sey: sondern Jeder wandelte getreulich in den Fußstapfen der Vorangehenden, wie Schafe ihrem Hirten

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Lukian von Samosata: Lucian’s Werke. J. B. Metzler, Stuttgart 1827–1832, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lucians_Werke_0585.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)