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Und schau’ ich eine stattliche Matrone,
Von der noch jetzt entzückte Alte sagen:
„Einst war sie reizend, aller Schönheit Krone!“
So möcht’ ich wandeln in vergangnen Tagen.
Zusammenwerfen möcht’ ich Raum und Zeit,
Die Leidenschaft ist wild und überschwänglich;
Well sie der Durst verzehrt nach Ewigkeit,
Drum seht ihr sie so flüchtig und vergänglich.
Zuweilen auch ist seltsam mir zu Muth,
Als wäre, was mir durch die Adern zieht,
Entfremdet einem höheren Gebiet,
Ein Geist verirrt, verschlagen in mein Blut;
Ein Ferge, der im Strom des Blutes treibt,
Und nirgendwo an einer Stelle bleibt,
Der nie gewinnt den Frieden fester Landung,
Weil ihm entsank sein Ruder in die Brandung.
Hinwiederum verzaubert er mein Blut,
Daß jeder Tropfen pocht in trunkner Wuth;
Es fühlt der Geist, der Alles will umfassen,
Im Einzlen sich verkerkert und verlassen; –
Er ist es, der mich ewig dürsten heißt,
Und mich von Weib zu Weib verderblich reißt.

Empfohlene Zitierweise:
Nicolaus Lenau: Nicolaus Lenau's dichterischer Nachlaß. J. G. Cotta, Stuttgart und Augsburg 1858, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lenau_-_dichterischer_Nachlass,_1858.djvu/25&oldid=- (Version vom 27.11.2022)