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„Sie sehen, mein armer Germain,“ sagte sie zum Schluß, „daß es unvorsichtig von Ihnen wäre, in meinem Hause zu schlafen. Sie würden momentan sogar besser tun, selbst von Besuchen am Tage abzusehen.“

Um ihren Verdacht nicht zu erwecken, stellte ich mich noch betrübter als sie. Ich verfluchte diesen verdammten Vidocq, der uns nicht in Ruhe ließ; ich tobte geradezu, daß ich nun außerhalb von Paris ein Obdach suchen müsse und nahm von Mama Noël Abschied. Sie wünschte mir viel Glück, sagte „Auf baldiges Wiedersehen“ und ließ beim Abschied in meine Hand ein Dreifrankstück gleiten.

Ich wußte, daß Desbois und Montgenet erwartet wurden; außerdem wußte ich nun, daß Personen in Frau Noëls Haus ein- und ausgingen, mochte sie da sein oder nicht; sie kamen sehr oft, wenn sie Stunden in der Stadt gab. Mir lag daran, alle diese Herrschaften kennen zu lernen … Zu diesem Zweck postierte ich an der Straßenecke einige als Dienstmänner verkleidete Agenten so, daß sie nicht auffallen konnten.

Um den Schein zu erwecken, ich fürchtete mich, besuchte ich zwei Tage lang Frau Noël nicht. Nachher kam ich eines Abends zu ihr und brachte ihr einen jungen Mann mit, den ich für den Bruder der Frau ausgab, mit der ich gelebt hatte. Ich war ihm angeblich im Moment, als ich Paris verlassen wollte, zufällig begegnet, und hatte ein Obdach bei ihm gefunden. Dieser junge Mann war ein Geheimagent; ich sagte Mama Noël, er habe mein ganzes Vertrauen, sie könne ihn als mein zweites Ich betrachten; da ihn die Spitzel nicht kannten, so sollte er ihr Botschaft von mir bringen, wenn ich Angst hätte, mich zu zeigen.

„Wie schade!“ rief Frau Noël, „Sie haben viel verloren. Wenn Sie zwanzig Minuten früher gekommen wären, hätte Sie hier eine Frau getroffen, die Sie gut kennt.“

„Wen denn?“

„Die Schwester von Marguerit.“

„Ja, sie hat mich wirklich oft mit ihrem Bruder gesehen.“

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_351.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)