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Musikerin, und in der mittleren Bourgeoisie, deren Töchtern sie Unterricht erteilte, galt sie als vortreffliche Künstlerin. Wenn man sie sah und hörte und sie nicht näher kannte, erschien Frau Noël als recht interessante kleine Frau, ja, sie hatte sogar etwas Rührendes in ihrem Wesen. Ein gewisses Geheimnis lag über ihrem Leben. Man wußte nichts von ihrem Gatten. Einige behaupteten, sie wäre schon sehr früh verwitwet gewesen; andere erzählten, er habe sie verlassen; dann sagten wieder andere, sie sei das Opfer einer Verführung geworden. Ich weiß nicht, welches dieser Gerüchte der Wahrheit entspricht, ich weiß nur soviel, daß Frau Noël eine kleine Brünette war, deren lebhaftes Auge und heiterer Blick viel Sanftmut äußerten; in Übereinstimmung damit stand ihr freundliches Lächeln und der Klang ihrer Stimme, die viel Charme hatte. Dieses Gesicht vereinte aber in Wahrheit etwas Engelhaftes und Teuflisches zugleich, aber mehr Teuflisches als Engelhaftes, denn mit den Jahren hatten die bösen Gedanken ihre Züge enthüllt.

Frau Noël war gefällig und gut, aber lediglich für Individuen, die irgendwie mit der Justiz auf dem Kriegsfuß standen; diese nahm sie auf wie eine Soldatenmutter die Kameraden ihres Sohnes aufzunehmen pflegt. Um eines guten Empfangs gewiß zu sein, brauchte man nur aus derselben Batterie zu sein, wie der Brillen-Noël; und dann erwies sie einem aus Liebe zu ihm oder auch aus eigener Neigung alle möglichen Dienste. Sie wurde gewissermaßen von den Dieben als ihre Mutter betrachtet; bei ihr stiegen sie ab, sie sorgte für alle ihre Bedürfnisse, sie trieb ihre Gefälligkeit selbst soweit, daß sie ihnen „Arbeit“ suchte; wenn ein Paß nötig war, ruhte sie nicht eher, bis sie einen Paß verschafft hatte.

Mama Noël hatte mich nie gesehen, mein Aussehen war ihr vollkommen unbekannt, sie hatte höchstens meinen Namen nennen hören. Es wäre mir also ein Leichtes gewesen, mich ihr vorzustellen, ohne ihren Verdacht zu erregen. Aber ich wollte sie soweit

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_344.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)