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Die Verpflichtung, die ich übernommen hatte, war nicht so leicht zu erfüllen, als man glauben könnte. Ich hatte zwar mit der Zeit einen Haufen Verbrecher kennen gelernt. Aber durch Ausschweifungen aller Art, durch Hinrichtungen, durch das schreckliche Leben in den Zuchthäusern und Gefängnissen, und durch das Elend dezimiert, war die schauerliche Generation mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit ausgestorben; ein neues Geschlecht nahm den Schauplatz ein, und ich kannte nicht einmal seine Namen. Ich kannte nicht einmal die Notabilitäten dieser Generation. Damals machte eine große Anzahl von Dieben die Hauptstadt unsicher; es wäre mir unmöglich gewesen, auch nur den geringsten Anhaltspunkt über ihre Anführer zu geben, wenn nicht mein ehemaliger Ruf mich instand gesetzt hätte, mit diesen Beduinen der Zivilisation in Verbindung zu treten. Mein Renomee nützte mir, ich will nicht sagen, über alle Erwartungen, aber doch soweit ich es wünschen konnte. Kein Dieb kam in die Untersuchungshaft, der nicht meine Bekanntschaft suchte. Wenn er mich nie vorher gesehen hatte, so wollte er, um sich in den Augen seiner Kameraden einen Nimbus zu verleihen, wenigstens zu mir in Beziehungen gestanden haben. Ich schmeichelte dieser sonderbaren Eitelkeit und kam so ganz unmerklich manchen Entdeckungen auf die Spur. Mir flossen Nachrichten in Menge zu, und nichts hinderte mich, meine Aufgabe aufs beste zu erfüllen.

Um eine Vorstellung von dem Einfluß zu geben, den ich auf die Gemüter der Sträflinge ausübte, brauche ich nur zu sagen, daß ich ihnen nach Belieben meine Ansichten, meine Neigungen, meine Gefühle einimpfte. Sie dachten wie ich und schworen auf mich. Wollte man einem Mitgefangenen übel mitspielen, weil er für einen Spitzel gehalten wurde, so brauchte ich mich nur für ihn zu verwenden, und er war im Nu rehabilitiert. Ich war zugleich ein mächtiger Beschützer und ein Bürge für verdächtige Offenherzigkeit.

Der erste, dessen Gewährsmann ich auf diese Art wurde, war

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_307.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)