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ich kenne dich, du bist nicht der Mensch, der seine Freunde im Stich läßt.“

Die Idee, diesen zwei Banditen ausgeliefert zu sein, die zu allem fähig waren, – selbst mich der Polizei auszuliefern, – war niederschmetternd. Ich tat aber so, als ob ich sehr froh wäre, sie wiederzusehen. Dann sagte ich, daß ich nicht reich sei und ihnen nur fünfzig Franken zur Verfügung stellen könne. Sie schienen sich mit dieser Summe zu begnügen; beim Abschied sagten sie mir, sie hätten die Absicht, nach Châlons-sur-Marne zu gehen, um dort etwas zu „deichseln“. Wie froh wäre ich gewesen, wenn sie Paris für immer verlassen hätten, aber sie versprachen mir, bald wiederzukommen, und mir blieb das Grauen vor ihrem nächsten Besuch zurück. Gewiß betrachteten sie mich als ihre Milchkuh und wollten sich ihre Verschwiegenheit hoch bezahlen lassen … Wie leicht konnten sie unersättlich werden …

Wie man sich vielleicht noch erinnert, hatte meine Frau nach ihrer Scheidung eine zweite Ehe geschlossen. Ich glaubte, sie wohne im Departement Pas-de-Calais und sei damit beschäftigt, ihr und ihres neuen Gatten Glück zu spinnen, als ich eines Tages in der Rue Petit-Carreau mit der Nase auf sie stieß. Es war unmöglich, ihr auszuweichen: sie hatte mich sofort erkannt. Ich sprach sie an, und da ihre schäbige Kleidung mir zur Genüge zeigte, daß sie nicht zu den Glücklichsten zählte, so gab ich ihr etwas Geld. Vielleicht hielt sie meine Freigebigkeit für irgendwie interessiert, sie war es aber keineswegs. Es war mir nicht einmal in den Sinn gekommen, daß die einstige Frau Vidocq mich denunzieren könnte. In Wirklichkeit glaubte ich, wenn ich mich später an unsere Zwistigkeiten erinnerte, klug gehandelt zu haben; und es erschien mir ganz richtig, daß dieser Frau in ihrer Not auf eine Unterstützung meinerseits rechnen konnte; wäre ich eingesperrt gewesen oder fern von Paris, so hätte ich nicht einmal ihre Not lindern können. Das mußte also für sie genügend Grund sein, um reinen Mund zu halten; ich glaubte

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_284.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)