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„Ach, bester Herr Kommissar, nicht ich, sondern mein Bruder ist aus dem Bagno von Brest geflüchtet. Mein Unglück ist, daß ich ihm ähnlich sehe … Ich weiß, daß es nicht in Ihrer Macht steht, den Beschluß des Gerichtshofes zu ändern, aber eine Gnade können Sie mir doch erweisen. Aus Vorsicht hat man mich in die Abteilung der Verdächtigen gesteckt; hier befinde ich mich inmitten einer Horde von Dieben und Roheitsverbrechern. Ich beschwöre Sie, werfen Sie mich in den dunkelsten Kerker, legen Sie mir die schwersten Ketten an, tun Sie mit mir, was Sie wollen, aber lassen Sie mich nicht hier!“

Während dieser Rede erstarrten die Sträflinge vor Staunen; sie konnten es gar nicht fassen, wie einer ihrer Kameraden die Kühnheit hatte, sie offen zu schmähen. Der Kommissar selbst wußte nicht, was er von diesem sonderbaren Ausfall halten sollte. Er schwieg, aber ich sah es ihm an, er war tief gerührt. Ich warf mich ihm zu Füßen und rief mit Tränen in den Augen:

„Haben Sie Erbarmen mit mir! Wenn Sie mir meine Bitte abschlagen, wenn Sie mich in diesem Saal zurücklassen, so werden Sie mich nie mehr sehen.“ Diese letzten Worte hatten den nötigen Erfolg. Der Kommissar war ein guter Mann. Er ließ mich in seiner Gegenwart losschmieden und in die Abteilung derjenigen, die zur Arbeit gehen, bringen.

Man kettete mich mit einem gewissen Salesse zusammen, einem Gascogner, der so boshaft war, wie es ein Sträfling nur sein kann. Als wir das erstemal unter vier Augen waren, fragte er mich, ob ich durchzubrennen beabsichtigte. „Ich denke gar nicht daran,“ antwortete ich, „ich bin ja ganz glücklich darüber, daß man mich zur Arbeit gehen läßt“

Nur Jossas kannte mein Geheimnis; er bereitete alles zu meiner Flucht vor. Bürgerliche Kleider wurden mir verschafft; ich trug sie unter der Sträflingskleidung, so daß nicht einmal mein Nachbar es merkte. Ein Schraubbolzen kam an meine Ketten an Stelle des genieteten Bolzens; ich war zum Aufbruch gerüstet.

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_193.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)