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weltlichen Bemühungen beobachtet hatte. Die Schwester Franziska war keine der Zierpuppen von Nonnen, wie man sie in der Oper sah, bevor die Nönnlein in Stiftsfräulein, und die Busenschleier in grüne Schürzen verwandelt worden waren. Schwester Franziska war gegen vierunddreißig Jahre alt. Sie war schwarzhaarig und rotbackig, und ihre robusten Reize hatten mehr als eine unglückliche Liebe bei den Medizinjüngern sowohl wie bei den Krankenwärtern entfacht. Beim Anblick dieses verführerischen Geschöpfes, das gegen zwei Zentner wiegen mochte, kam mir der Gedanke, ihr für ein Weilchen ihre körperliche Gewandung zu entlehnen. Ich sagte das meinem Wärter wie einen tollen Einfall, aber er nahm die Sache durchaus ernst und versprach mir, in der darauffolgenden Nacht mir einen Teil von Schwester Franziskas Garderobe zu bringen.

In der Tat, gegen zwei Uhr nachts sah ich ihn mit einem Bündel ankommen, das ein Kleid, einen Schleier, Strümpfe und alles andere enthielt. Er hatte all das aus der Zelle der Schwester gestohlen, während sie bei der Morgenmesse war. Meine neun Zimmergenossen schliefen tief; aber ich ging auf den Flur, um meine Toilette zu machen. Was mir am meisten Mühe bereitete, war der Kopfputz. Ich hatte keine Ahnung, wie er angeordnet werden mußte, dabei hätte mich die geringste Unordnung an diesem Kleidungsstück unfehlbar verraten, denn gerade dabei wird peinliche Genauigkeit gewahrt.

Endlich ist die Toilette der Schwester Vidocq fertig. Wir durchschreiten den Hof und die Gärten und gelangen an eine Stelle, wo es sich am leichtesten über die Mauer klettern läßt. Ich stecke dem Krankenwärter fünfzig Franken zu, fast das ganze Geld, das mir noch übriggeblieben war, und bin bald in einem menschenleeren Gäßchen. Ich lasse mich von ziemlich vagen Hinweisen leiten, gelange aber bald aufs Feld. Obwohl die Frauenröcke mich ziemlich behinderten, so marschierte ich doch tüchtig aus, und hatte bei Sonnenaufgang zwei Meilen hinter mir. Ich begegnete einem Bauern, der mit seinem Gemüse

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_147.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)