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nicht aus den Augen gelassen hatte, wirft sich auf die Knie und fleht mich an, dieses Benehmen zu lassen, das mir noch teuer zu stehen kommen konnte. Ich sehe sie an, ich zögere einen Moment, und ein Rest von Vernunft läßt mir aufdämmern, daß sie recht haben könnte. Ich bestürme sie mit Fragen; und dieses arme Mädchen, das ich immer sanft und gutmütig gefunden hatte, erklärt mir das ganze Verhalten ihrer Herrin. Es war einer von den Berichten, die sich in Paris täglich wiederholen.

Als Rosine mich kennen lernte, war sie schon seit zwei Monaten ohne „Kavalier“. Nach den Ausgaben, die sie mich machen sah, hielt sie mich für sehr reich, und sie beschloß die Umstände auszunutzen. Ihr Geliebter, der, dessen Brief ich in die Hand bekommen hatte, hatte sich mir ihr besprochen, nach Versailles zu gehen und dort so lange zu wohnen, bis man mit meinem Geld Schluß gemacht haben würde. Das war auch der Geliebte gewesen, den man wegen des Wechsels bedrohte, und ihn hatte ich so edelmütig ausgelöst. Die Schulden bei der Modistin und beim Möbelhändler waren auf ähnliche Art Schwindel.

Während ich meine Dummheit verwünschte, war ich doch immerhin erstaunt, daß ich die Dame, die mir so nett mitgespielt hatte, nicht nach Hause kommen sah. Aber Divine sagte mir, wahrscheinlich sei sie von der Portiersfrau benachrichtigt worden, daß ich den Brief aufgegriffen habe; sie würde wohl sobald nicht wiederkommen. Die Vermutung bestätigte sich. Als Rosine von der Katastrophe erfuhr, die sie hinderte mir auch die letzte Feder auszurupfen, war sie sofort im Wagen nach Versailles gefahren, um dort einen „Bekannten“ zu treffen. Die paar Flitter, die sie in der gemieteten Wohnung zurückließ, waren nicht so viel wert, daß sie der Miete von zwei Monaten, die Rosine dem Hauswirt schuldete, entsprochen hätten. Und dieser Hauswirt kam gerade, als ich gehen wollte, und zwang mich noch rasch das Porzellan und die Psyche zu bezahlen, an der ich meine erste Wut ausgelassen hatte.

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_071.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)