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ich sie sorgenvoll. Ich bestürme sie mit Fragen, sie weicht mir aus, und endlich gesteht sie mir, daß sie von einigen Kleinigkeiten, die sie ihrer Modistin und ihrem Tapezierer schuldig sei, beunruhigt werde. Ich biete mit Eifer meine Dienste an. Sie weist sie mit außerordentlicher Seelengröße zurück, und ich kann nicht einmal die Adresse der beiden Gläubiger bekommen. Viele honette Leute hätten die Sache auf sich beruhen lassen, aber ich, als ein wahrer Paladin, hatte keinen Augenblick Ruhe, bis mir Divine, die Kammerfrau, die kostbaren Adressen gegeben hatte. Von der Rue Vivienne, wo Rosine wohnte – sie ließ sich übrigens Madame de Saint-Michel nennen – laufe ich zu dem Tapezierer in der Rue de Cléry. Ich nenne den Zweck meines Besuchs. Sofort werde ich mit Liebenswürdigkeiten überschüttet, wie das unter solchen Umständen üblich ist. Man überreicht mir die Rechnung, und zu meiner Bestürzung sehe ich, daß sie zwölfhundert Franken beträgt. Nun war ich schon zu weit gegangen, um wieder umkehren zu können; ich bezahle also. Bei der Modistin dieselbe Szene, dieselbe Entwicklung, nur mit einem Unterschied von etwa hundert Franken. Nun, das konnte schon den Kühnsten etwas abkühlen. Aber noch war das letzte Wort nicht gesprochen. Einige Tage nachdem ich die Gläubiger bezahlt hatte, wurde ich veranlaßt, für zweitausend Franken Schmucksachen zu kaufen! Aber alle anderen Ausgaben gingen trotzdem und unabhängig davon weiter. Ich sah wohl etwas verwirrt, wie mein Geld dahinging, aber da ich immer vor dem Moment der Untersuchung meiner Kasse zurückschrecke, schiebe ich das von Tag zu Tag auf. Endlich gehe ich doch daran und finde, daß ich in zwei Monaten die bescheidene Summe von vierzehntausend Franken herausgeschmissen habe. Diese Entdeckung brachte mich auf ernsthafte Gedanken. Rosine bemerkte sogleich mein verändertes Wesen. Sie ahnte, daß meine Finanzen auf dem Tiefstande angelangt seien. Die Weiber haben in dieser Hinsicht eine Witterung, die sie selten täuscht. Ohne nun gerade mir gegenüber Kälte zu bezeugen, zeigte sie sich doch etwas mehr reserviert.

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_069.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)