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hatte uns drei Mann gekostet; mir selbst waren zwei Finger von einem Schuß zerschmettert worden. Nun verschwendete Delphine an mich ihre zärtlichsten Sorgen. Ihre Mutter hatte nach Gent reisen müssen, wohin, wie sie wußte, ihr Mann als Kriegsgefangener geschickt worden war, und wir begaben uns unsererseits nach Lille. Dort wartete ich meine Heilung ab. Da Delphine einen Teil des im Hafer wiedergefundenen Geldes hatte, führten wir ein ziemlich lustiges Leben. Schließlich dachten wir daran, uns zu heiraten, und die Sache war so weit gediehen, daß ich mich eines Morgens nach Arras auf den Weg machte, um mir dort die notwendigen Papiere und die Einwilligung meiner Eltern zu besorgen. Delphine hatte schon die Einwilligung ihrer Eltern erhalten, die sich immer noch in Gent befanden. Aber eine Meile von Lille merkte ich auf einmal, daß ich meinen Spitalausweis, den ich notwendig auf dem Rathause von Arras brauchte, vergessen hatte. Ich gehe also wieder zurück. Als ich im Hotel ankomme, steige ich zum Zimmer empor, das wir bewohnen; ich klopfe, niemand antwortet. Nun war es aber unmöglich, daß Delphine schon so früh ausgegangen sein sollte; es war ja noch nicht ganz sechs Uhr. Ich klopfe wieder. Endlich macht Delphine auf, reckt ihre Arme und reibt sich die Augen, wie jemand, der eben erschreckt aufgewacht ist. Um sie zu prüfen, schlage ich ihr vor, mich nach Arras zu begleiten, damit ich sie meinen Eltern vorstellen könnte. Sie nimmt es mit ruhiger Miene an. Schon beginnt mein Verdacht sich zu zerstreuen, aber irgend etwas sagte mir, daß sie mich hinterging. Endlich merke ich, wie sie von Zeit zu Zeit ihre Augen nach einem Kleiderschrank wandte. Ich tue so, als wollte ich ihn öffnen, aber meine keusche Braut widersetzt sich dem unter einem der vielen Vorwände, die die Frauen immer zur Verfügung haben. Doch ich bestehe darauf, und endlich öffne ich den Schrank und finde in ihm verborgen unter einem Haufen schmutziger Wäsche einen Arzt, der mir seine Pflege während meiner Genesung hatte angedeihen lassen. Er war alt, häßlich und unreinlich.

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_049.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)