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ihn zunichte. Die Natur ist ihm immer nur das symbolische Bild eines fremden menschlichen Willens.

Aber das Kunstvolle ist: daß er sie in seinen Aufzeichnungen auch so erscheinen lassen kann. Wir sehen ihn immer tief versunken in stürmischen schwarzen Wäldern, im Heulen des schüttelnden Meeres, durch die Nacht stechen Umrisse von Gefängnistürmen - aber gerade diese Dinge schildert er nicht, sondern er stellt allein seine eigenen Handlungen dar.

Doch Vidocqs Denkwürdigkeiten wollen dokumentarisch sein; sie gehen nicht nur von psychisch Tatsächlichem, sondern von real Tatsächlichem aus. Daher sucht Vidocq seine Handlungen zu erklären. Er erklärt sie durch seine Umgebung. Zum erstenmal taucht an einer auffallenden Stelle und am einzelnen Fall gezeigt eine Art von Proletarier-Milieutheorie auf, roh, zu Nutzzwecken gröblich und etwas sentimental formuliert, doch sehr deutlich, und drei Generationen vor der exakten Systematisierung dieser Idee. Diese rudimentäre Milieutheorie wird auch sofort ganz, wie bei den späteren Soziologen, an einem Fall von unheilbarem Proletariat angewendet. Doch Vidocq ist kein Gelehrter. Er ist ein leidenschaftlicher, gewalttätiger, unehrlicher Mensch, und so stilisiert er seinen Fall oft nach seiner Ansicht von den Wirkungen einer Elendsumgebung. Er schwindelt, immer sehr durchsichtig; ein Kunsteindruck mehr wird dadurch erzeugt. Denn jedesmal, wenn Vidocq das Grauenhafte von Einzelheiten verschweigt, wird der Leser aktiv und sieht neue Bilder neben der Erzählung einherlaufen. Vidocqs Zeitgenossen waren aber darüber empört. Die „Mémoires de Vidocq, Chef de la police de Sureté“ waren 1828 in vier Bänden in Paris erschienen; sofort erschienen vier Bände eines ungenannten Feindes von Vidocq, auch eines ehemaligen Sträflings und Polizeispitzels, „Mémoires d'un Forçat, ou Vidocq dévoilé.“ Die wollen alles sagen, was Vidocq selbst verschweigt. Man merkt aber, daß sie auch zu verbergen haben, und der Rest an offenbarer Wahrheit besteht aus einer Anhäufung von Einzelzügen,

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_009.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)