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eines Umstandes, die Acklimatisierung eines fremden und die Modernisirung eines veralteten Gegenstandes, die Verallgemeinerung einer speciellen und Spezialisirung einer allgemeinen Bezeichnung, die Umstellung der Begebenheiten, die Verwechselung von Personalien oder Thätigkeiten, die Vervielfältigung, besonders mit den Zahlen 3, 5, 7, der Polyzoismus, wo viele Thiere anstatt eines vorkommen, der Anthropomorphismus der Thiere und ihr Gegentheil der Zoomorphismus der Menschen, der Egomorphismus, wo der Erzähler selbst als Hauptheld auftritt u. s. w. Dazu kommt noch die Lust ein Abentheur mit eingeschobenen Episoden auszuschmücken, mit einer Einleitung besser zu begründen, mit einem Schlussrefrain hübsch zu beendigen, überhaupt nach allen Richtungen hin den Faden der Erzählung fortzuspinnen. Diese Lust der Fortsetzung ist es, welche mehrere Abentheuer zu einem Ganzen verbindet. Denn die beschränkte Phantasie des Volkes heutzutage schafft wenig neues, fast alle Zusätze entnimmt sie aus dem schon vorhandenen Materiale, entweder ein Bruchstück eines Abentheuers oder das ganze Abentheuer mit einem Anderen oder dessen Bruchstücke verbindend. Diese Verbindung kann natürlich nicht ohne Einfluss auf die verbundenen Glieder sein, welche meistens sehr verändert werden müssen; um in einander zu passen. Ein sehr grosser Theil der Veränderungen and Verdrehungen eines Abentheuers ist also dem Einflusse eines anderen damit verbundenen Abentheuers zuzurechnen. Diese Art der Veränderung entspricht in der Sprache den Lautveränderungen, welche die nachbarlichen Laute verursachen. Endlich sind noch die Veränderungen durch Analogie zu nennen, den sprachlichen Veränderungen ex analogia ganz entsprechend, in dem ein Abentheuer sich nach einer anderen Gruppe von Abentheuern richtet (so haben sich z. B. die Märchen vom Bären und Fuchs nach dem antiken Fabeln von Wolf und Fuchs gerichtet, indem der Wolf an die Stelle des Bären getreten ist).

Ebenso so gross wie für die Völkerpsychologie, wenn nicht noch grösser, ist die Bedeutung der Märchenkunde für die Kulturgeschichte. Indem sie uns die Wege zeigt, auf welchen die Märchen von einem Volke zu dem anderen mündlich, nicht mir durch die Literatur, gelangt sind, erhalten wir sichere Beweise der Kultureinflüsse des einen Volkes auf das andere. Denn wie gesagt, die Volksmärchen sind nicht mit der Sprache, sondern mit der Kultur gewandert. Andererseits sind ebenso wenig, wie unsere Kultur ausschliesslich einer Nation und einer Rasse zu verdanken ist, die Volksmärchen aus der genialen Thätigkeit eines einzigen Volkes entstanden. Sie sind vielmehr das durch vereinte Arbeit erworbene gemeinsame Eigenthum der ganzen mehr oder weniger civilisierten Welt und somit ein Gegenstand der internationalen Wissenschaft.


Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn: Die geografische Verbreitung einer nordischen Thiermärchenkette in Finnland. Suomalaisen Kirjallisuuden-seuran Kirjapainossa, Helsinki 1890, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Krohn_Nordische_Thierm%C3%A4rchenkette.djvu/13&oldid=- (Version vom 1.8.2018)